Osteuropa-Experte über Wahl in Russland: "Viele Wähler haben die Nase voll"

Putin hat den Unmut des Volkes völlig unterschätzt, sagt Osteuropa-Experte Cornelius Ochmann. Ausbaden muss es jetzt Medwedjew – und Sündenbock wird die Partei sein.

Drinnen wurde gezählt, draußen geknüppelt: Moskauer Polizei am Sonntag. Bild: reuters

taz: Herr Ochmann, wie interpretieren Sie das Wahlergebnis?

Cornelius Ochmann: Wenn die Partei Vereinigtes Russland trotz des ganzen Drucks der Propagandamaschine und aller Fälschungen nur knapp 50 Prozent erreicht, ist die Botschaft eindeutig: Ein Großteil der Wähler hat von Wladimir Putin die Nase voll. Der Chef der kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, hat übrigens recht, wenn er sagt, dass die Partei insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Stimmen bekommen hat.

Warum haben die Wähler die Nase voll?

Unter der Präsidentschaft von Dmitri Medwedjew haben die Menschen immer noch daran geglaubt, dass bei den Wahlen zumindest demokratische Rahmenbedingungen eingehalten werden. Das war nicht der Fall. Noch Anfang September sahen die Umfrageergebnisse für Vereinigtes Russland ganz gut aus. Der Chef der Partei Rechte Sache, Michail Prochorow, sprach davon, dass die Russen eine demokratische Wahl hätten. Als sich Putin dann Prochorows entledigte, begann die Zustimmung zu schwinden.

Welche Bedeutung hatte dabei die Ankündigung von Putins erneuter Kandidatur für das Präsidentenamt am 24. September?

Das war der Einbruch für Vereinigtes Russland, wobei alle Anzeichen darauf hindeuten, dass diese Ankündigung zu diesem Zeitpunkt nicht geplant war. Hätte sie erst nach der Wahl stattgefunden, denke ich, dass wir heute ein anderes Ergebnis hätten.

Jahrgang 1964, ist Politikwissenschaftler, seit 1994 als Osteuropa-Experte bei der Bertelsmann Stiftung, Schwerpunkte: Beziehungen zwischen der EU und Russland und östliche Partnerschaft.

Hat Putin den Unmut der Bevölkerung unterschätzt?

Eindeutig ja. Er ist allerdings jemand, der Entscheidungen immer wieder hinausschiebt. Im Sommer hatte er offensichtlich ein völlig verzerrtes Bild der Lage und glaubte seinen Beratern, dass die Ankündigung seiner Kandidatur schon im September die Lage beruhigen werde - offensichtlich ein Irrtum.

Was bedeutet diese Schlappe?

Putin hat sich bislang als nicht besonders lernfähig erwiesen. Doch diese Wahlen sind für ihn ein Wendepunkt. In den vergangenen zwölf Jahren war er noch nie in so einer schwierigen Situation. Daher glaube ich, dass er für den Präsidentschaftswahlkampf entsprechende Schlüsse ziehen wird.

Welche sind das?

Medwedjew wird dieses Ergebnis ausbaden müssen und die Partei Vereinigtes Russland wird zum Sündenbock erklärt. Putin selbst wird sich im bevorstehenden Wahlkampf hingegen auf seine neu gegründete Allrussische Volksfront stützen.

Sehen Sie die Gefahr, dass das Regime seine Repressionen gegen seine politischen Gegnern verstärkt?

Diese Gefahr sehe ich derzeit nicht. Putin wird versuchen, sich als Zar aller Russen darzustellen, und zu diesem Image passt es nicht, den Druck weiter zu erhöhen. Ein solches Szenario ist jedoch möglich, wenn sein Ergebnis bei den Präsidentenwahlen trotz Fälschungen ähnlich schlecht ausfällt wie jetzt. Dann könnte das weißrussische Syndrom greifen. Der dortige Diktator geht ja seit den Präsidentenwahlen im vergangenen Dezember mit äußerster Brutalität gegen die Opposition vor.

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