Paralympics in Rio: Und raus bist du

Weil sein Asylantrag noch läuft, darf Ahmad Yasini nicht im Flüchtlingsteam starten. Sein Rauswurf rückt eine symbolische Geste in schlechtes Licht.

Ahmad Yasini in einem Schuhgeschäft

Der Einkauf ist ein schwieriges Unterfangen: Ahmad Yasini Foto: Andreas Koob

COTTBUS taz | Bei den Herrenschuhen war nichts Passendes dabei. Jetzt steht Ahmad Yasini vor dem Kinderschuhregal in einem Cottbusser Discounter. Am linken Fuß braucht er Schuhgröße 38, am rechten nur Größe 37. Er versucht, in zwei Modelle zu schlüpfen, aber die Schuhe, die sonst Kinder zur Kommunion tragen, sind zu eng für den Fußballen des 28-Jährigen. In einer Woche geht sein Flug nach Rio zu den Paralympics. Für die Eröffnungsfeier braucht er noch Abendgarderobe.

Der Einkauf ist ein schwieriges Unterfangen. Yasinis rechtes Bein ist von Geburt an elf Zentimeter kürzer als sein linkes. Die neue Anzughose lässt sich problemlos kürzen, bei den Lederschuhen ist es kniffliger. Schließlich begnügt er sich mit dem allerersten Paar, das er anprobiert hat. Größe 39, Glattleder, schwarz. Sein rechter Fuß schlappt trotz zweier Einlegesohlen noch immer aus dem Schuh. Missmutig trottet der Athlet aus dem Geschäft, doch immerhin: Er ist eingekleidet, die letzte der vielen Hürden vor der Abreise nach Rio scheint genommen.

Vierzehn Tage ist das her. Bei der heutigen Eröffnungsfeier in Rio ist der gebürtige Afghane Ahmad Yasini trotzdem nicht dabei. Am Abend nach dem Einkauf bekommt er einen Anruf vom Internationalen Paralympischen Komitee (IPC), später noch eine E-Mail: „Sie sind nicht mehr berechtigt, Teil des unabhängigen Flüchtlingsteams zu sein.“ Yasinis Asylverfahren in Deutschland laufe noch, entscheidendes Auswahlkriterium sei aber seine Anerkennung als Flüchtling.

Englischübersetzer in Kabul

„Mit einem Mal ist alles anders. Es fühlt sich beschissen an“, sagt Yasini. Anfang August hatte er die Olympiazusage bekommen. Seine Flüge waren gebucht, die Akkreditierung war ausgestellt. Er sollte in der Klasse der Unterschenkelamputierten, den sogenannten T44, über 100 Meter Sprint starten. Es wäre die Krönung seines Comebacks gewesen.

Bevor Yasini im Frühsommer 2015 aus Afghanistan floh, hatte er die nationale Meisterschaft in dieser Klasse über 100 und 400 Meter gewonnen. Der afghanische Verband wollte ihn für die Spiele in Rio nominieren. Doch es kam anders.

Ein Mann, Ahmad Yasini

Ahmad Yasini hat in den letzten Wochen täglich trainiert – bis die Absage für Rio kam Foto: Andreas Koob

Yasini lebte damals in Kabul und arbeitete als Englischübersetzer für ein von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beauftragtes Unternehmen, das Fahrsicherheitstrainings im ganzen Land absolviert. Damit schafft man sich in Afghanistan Feinde, gilt vielen als Kollaborateur des Westens. Vor seiner Flucht muss etwas geschehen sein, worüber Ahmad Yasini nicht spricht. Fortan fühlte er, der anderen beibrachte, sich mit dem Auto aus dem Kugelhagel zu retten, gar einen Panzerfaustangriff zu überleben, sich in seiner Heimat nicht mehr sicher.

Er floh über den Iran weiter Richtung Westen und gelangte entlang der Balkanroute nach Deutschland. Die Strapazen der Flucht und die Trainingspause haben den Leistungssportler sehr mitgenommen, er war nicht in Form. Noch im Mai wusste er nicht, ob er überhaupt noch einmal an Wettbewerben teilnehmen wird.

In der Endrunde

Zwei Monate später steht er bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften in Berlin erstmals wieder auf der Bahn: Das Turnier ist seine einzige Chance, sich noch für die Paralympics zu qualifizieren. Für den Wettkampf hat Yasini sich von seinem reduzierten Hartz-IV-Satz mit Spikes besohlte Schuhe besorgt. Umgeben von Athleten mit Hightech-Prothesen, drückt er seine Füße in die Startblöcke und sprintet los.

Auf den ersten Metern hält er das Tempo, dann ziehen die anderen an ihm vorbei. Weit abgeschlagen läuft Yasini ins Ziel und bleibt auch unter seiner alten Bestzeit. Resigniert nimmt er wieder auf der Tribüne Platz, Popmusik schallt durchs Stadion. Er holt sich eine Limo und plaudert mit befreundeten Sportlern. Als er erfährt, dass er es in die Endrunde geschafft hat, ist er perplex.

Dass sein letzter Platz tatsächlich für Rio ausreicht, erfährt er Tage später. Er selbst hat es am allerwenigsten für möglich gehalten. Yasini soll einer von drei Geflüchteten weltweit sein, die für das erste Flüchtlingsteam bei den Paralympics starten. Im August gab das IPC diesen Plan bekannt, allerdings noch ohne die Namen der nominierten Athleten zu nennen. Auch bei den Olympischen Spielen im August hatte es ein solches Flüchtlingsteam gegeben, dessen bekanntestes Gesicht die junge, syrische Schwimmerin Yusra Mardini geworden war.

Behörden kooperieren sogar

Yasinis Start in Rio schien nichts mehr entgegenzustehen, sogar die Behörden kooperierten großzügig: Damit er als Asylbewerber überhaupt dorthin reisen kann, hat ihm die Cottbusser Ausländerbehörde nach Rücksprache mit dem Brandenburger Innenministerium ein Reisedokument ausgestellt. Eine Seltenheit, heißt es aus dem Innenministerium: „Es hat uns gefreut, das möglich zu machen.“

Bereits im Mai ist Yasini aus der Sammelunterkunft in Bliesdorf nach Cottbus verlegt worden, um dort am Olympiastützpunkt trainieren zu können, was während des laufenden Asylverfahrens ebenfalls eine absolute Ausnahme ist. „Für ein Sporttalent öffnen sich manche Türen schneller“, sagt der Cottbusser Sozialdezernent Berndt Weiße: „Wenn das Schicksal uns einen solchen Spitzensportler vor die Füße spült, wäre es unsinnig, die Chance nicht zu nutzen.“

Ahmad Yasini hat die deutschen Behörden auch schon anders kennengelernt. Im September 2015 traf er in der Erstaufnahme im brandenburgischen Eisenhüttenstadt ein. Die ersten Nächte schläft er bei Temperaturen nahe null Grad in einem Zelt, danach landet der Athlet über Monate ausgerechnet in einer umfunktionierten Turnhalle. Als Yasini dann in Cottbus richtig loslegen kann mit dem Training, spielt seine Achillessehne nicht mit. Er hat starke Schmerzen im rechten Bein. Mehrmals spricht er beim Sozialamt vor, um ärztlich verordnete Massagen genehmigt zu bekommen. Als Asylbewerber steht ihm diese Behandlung nicht zu.

Bedauern beim IPC

„Solange er nicht kurz vorm Abnippeln steht, passiert da nichts“, sagt der Leiter des Cottbusser Olympiastützpunkts, Mirko Wohlfahrt, der schließlich Massagen auf eigene Faust organisiert. Er ackert sich mit Yasini durch die vielen Anträge und Papiere. Das hat die beiden zusammengeschweißt. Spricht er über Yasinis Lebensgeschichte, spült es Tränen in die Augen des Sportfunktionärs, der sonst so abgebrüht wirkt.

Noch immer hinkt Ahmad Yasini stärker als sonst. Trotzdem hat er bis zuletzt täglich trainiert. Auch am Morgen vor dem Aus für Rio läuft Yasini seine Runden. Die goldenen Zeiger der Stadionuhr stehen auf 9 Uhr, gemeinsam mit seiner Trainingspartnerin zieht Yasini seine Runden vorbei an den leeren Sitzreihen. Sie laufen auf Fußspitzen, hopsen und staksen wie Störche über die Bahn. Erst bei den Sprintübungen steigt Yasini aus. Die Achillessehne soll jetzt nicht reißen, er hat das Training auf ein Mindestmaß reduziert.

Für eine Medaille hätte es in Rio sicherlich nicht gereicht, doch das spielt für Yasini keine Rolle. Ihm geht es ums Dabeisein, dem IPC um die Geste und das gute Image. Das Flüchtlingsteam stehe für Mut, Entschlossenheit, Inspiration und Gleichstellung, schreibt das IPC: „Die Athleten sollen dazu beitragen, das Bewusstsein für die Misere von Tausenden Flüchtlingen und Asylsuchenden zu schärfen, die oftmals mit Beeinträchtigungen, vor schwierigen Entscheidungen und Reisen stehen.“

Keine Ausnahme möglich?

Über seine Flucht hatte Yasini dem IPC bereits Interviews gegeben und auch Fotos und Videos beim Training in Cottbus aufgenommen. Während der langwierigen Vorauswahl sei dem IPC nicht aufgefallen, dass Yasinis Asylverfahren noch läuft, erklärt Eva Werthmann, Sprecherin des IPC. „Das hätte nicht passieren dürfen“, sagt sie bedauernd. „Wir hätten ihn gerne mitgenommen.“ Geld habe keine Rolle gespielt. Aber konnte denn das IPC keine Ausnahme machen oder die ausschließlich selbst gesteckten Auswahlkriterien abändern? „Das war nicht möglich“, sagt Werthmann nur.

Nun ist Ahmad Yasini ausgerechnet wegen seines Rechtsstatus nicht Teil jenes Teams, das die Statusfrage in Anbetracht von weltweit 65 Millionen Geflüchteten zumindest für das Sportevent ein Stück weit zu überwinden trachtet.

Noch zwei im Team

Statt drei Athleten sind es nun zwei: Ein in den USA lebender iranischer Diskuswerfer und ein in Griechenland lebender syrischer Schwimmer, der im Bürgerkrieg sein rechtes Bein verloren hat. Sie werden den heutigen Einlauf der Athleten anführen.

Wie es für Yasini weitergeht, ist unklar. Seine Anerkennung als Flüchtling ist alles andere als sicher: Während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Verfahren von Geflüchteten aus Syrien und vom Balkan besonders schnell bearbeitet, gehört Afghanistan zu jenen Herkunftsländern, die seit vergangenem Jahr mit weniger Priorität behandelt werden. Asyl erhält gegenwärtig nicht einmal jeder zweite.

Das IPC versichert, Yasini weiterhin fördern zu wollen, auch ein Prothesenhersteller hat Unterstützung angeboten. Seit der Absage aber quälen Yasini Kopfschmerzen. Sein Training pausiert. Seiner Familie und seinen Freunden in der Heimat hatte er von Rio noch nichts erzählt, das wollte er erst nach seiner Ankunft machen.

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