Pariser Ausstellung „Histoires de Voir“: Auf der Suche nach dem Land ohne Übel

Die Ausstellung in der Fondation Cartier demonstriert Fantasie und Können „naiver“ Künstler. Der Anspruch, Kunst, nicht Kitsch zu sein, hat mit formalen Kriterien nichts zu tun.

Das Plakat gibt einen fröhlichen Vorgeschmack auf die nicht-kitschige, „naiv“ genannte Kunst, die man noch bis zum 21.10.12 betrachten kann. Bild: Fondation Cartier Promo

PARIA taz | Auf den ersten Blick könnten die reizvollen kleinen Frösche, Tapire, Wildschweine oder Papageien, die Ronaldo Costa aus Holz schnitzt, genauso wie die eleganten Jaguare von Valdir Benites als Touristenkitsch abgetan werden, zumal das ihre heutige Bestimmung, wenn auch nicht ihre kulturelle Genealogie, durchaus trifft. Auf den zweiten Blick aber wird der Kunstanspruch unübersehbar, den die Katzen, Hunde und das sonstige Getier Südamerikas erheben können. Er rührt aus dem Bruch mit der Genealogie.

Der Anspruch, Kunst, nicht Kitsch zu sein, hat mit stilistisch-formalen oder funktionalen Kriterien nichts zu tun. Er ist struktureller Natur und in einem für die Moderne typischen Prozess der Entfremdung begründet. Sind die Verbindungen zu ihren spirituellen und rituellen Ursprüngen erst geschwächt, taugen die Tiergestalten für ganz andere, neue Verwendungszusammenhänge wie etwa den touristischen.

Freilich kann dann indigenes Wissen und Können auch in individueller Autorenschaft aufgehoben, in einem neuen künstlerischen Anspruch und persönlichen Stil negiert und gleichzeitig im traditionellen Verfahren, mit dem glühenden Eisen die Tiergestalt in das weiche Holz zu brennen, bewahrt werden.

Ewige Ruhe

In der Fondation Cartier in Paris, wohin die Tiere des Dschungels für die Ausstellung „Histoires de Voir“ gereist sind, wird dazu noch ein politischer Gesichtspunkt dieser Kunst deutlich. Denn Ronaldo Costa und Valdir Benites gehören zu den knapp 50.000 Guarani, die das zahlenmäßig stärkste, gleichwohl in seiner Existenz stark geschwächte, indigene Volk Brasiliens bilden.

Von Beginn an, also seit dem 16. Jahrhundert, standen sie in Kontakt mit den Europäern, denen an den Guarani sofort „ihr ständiges Verlangen, neues Land zu suchen“, auffiel, „auf dem sie glauben, Unsterblichkeit und ewige Ruhe zu finden“.

Diese Suche nach dem „Land ohne Übel“ bildete einen wesentlichen Bestandteil ihrer Kultur und Lebensweise, den die europäischen Neuankömmlinge geschickt für ihre Interessen instrumentalisierten. Heute findet sich das Volk der Guarani ohne Land, in einem Leben voller Übel wieder. Ihrer eigentlichen Lebensgrundlage beraubt, dem tropischen Regenwald im Süden und entlang der Ostküste Brasiliens, der schon lange den Viehweiden, Soja- und Zuckerrohrplantagen zum Opfer fiel, droht nun auch den Guarani der Untergang.

Das Schnitzen ist unverzichtbare Einkommensquelle

Eingepfercht in Schutzgebieten, die für die Sicherung ihres Lebensunterhalts viel zu knapp bemessen sind, wird das Schnitzen und Verkaufen der Tiere des Dschungels, die mit dem Urwald verschwunden sind, zur unverzichtbaren Einkommensquelle in ihrem Überlebenskampf. Ronaldo Costas und Valdir Benites’ Vermögen, ökonomische und politische Nötigung in poetische, künstlerische Emanzipation zu übersetzen, findet sich in ähnlicher Form auch bei den anderen Künstlern und Künstlerinnen der Ausstellung.

Auf dieser Grundlage hinterfragen die „Histoires de Voir“ zu Recht Begriffe wie „naive“, „primitive“ oder „tribale“ Kunst. Nicht anders als die interessanteste zeitgenössische Kunst, regen die mehr als 250 Geschichten zum Sehen von rund 35 Künstlern aus aller Welt das fantasievolle Nachdenken an.

Intellektuell und diskursiv anspruchsvoll

Obwohl die Ausstellung in der Fondation Cartier mit Exponaten von einer lange nicht mehr gesehenen Farbenpracht auftrumpft und einer geradezu unwahrscheinlichen visuellen Einbildungskraft erfreut, ist sie intellektuell und diskursiv anspruchsvoll. Exponate wie die grandiose Gruppe von Keramikskulpturen der Familie Ortiz sind eine wunderbar dingliche Selbstversicherung, mithin Selbstreflexion postkolonialer Befindlichkeit.

Denn wie Virgil Ortiz in Paris erklärt, handelt es sich bei den Keramiken um einen bewussten, konzeptuellen Rückgriff auf alte Vorlagen, die eine Fotografie aus dem Jahr 1880 dokumentiert.

Die Idee brachte vier Generationen der Ortiz-Familie zusammen, einer alten, matrilinear organisierten Töpferdynastie der Cochiti Pueblo, die in New Mexico beheimatet sind. Gemeinsam schufen sie die 21 Figuren der „Vertigo“ genannten Werkgruppe. „Vertigo“ ist eine großartige, satirische Momentaufnahme des Alltags im damals noch Wilden Westen, als mit der neu gebauten Eisenbahn allerlei Opernkompanien, Freak-Shows und Zirkusunternehmen in den Süden kamen.

Schwindelerregende, überlegene Ironie

Die Belustigung der überraschten Pueblo Indianer kommt sichtlich in ihren Keramiken zum Ausdruck: denn alle, selbst der Frosch und das siamesische Zwillingspaar, scheinen mit weit aufgesperrtem Mund und hochkonzentrierter Miene bemüht, das hohe A zu treffen. Ja, diese überlegene Ironie ist schwindelerregend.

Ganz ähnlich fasziniert den Betrachter noch heute die moderne Schönheit der ersten Tafelmalerei aus dem Kongo, ihre Freiheit in der Motivwahl wie der Komposition. Sie entstand in den 1920er Jahren, als der belgische Kolonialbeamte Georges Thiry vor allem Albert Lubaki, aber auch andere kongolesische Künstler dazu bewegen konnte, ihre Wandmalereien auf Papier zu praktizieren.

Schwarze Bewohner

Schon 1929 wurde Lubaki im Palais des Beaux-Arts, Bruxelles, ausgestellt. Eine spätere Ausstellung in Rom, bei der auch Lubakis Kollege Djilatendo (Tshyela Ntendu) vertreten war, ließ einen anderen ihrer Förderer darüber klagen, dass es unmöglich sei, Bilder der Künstler zu präsentieren, in denen sie den industrialisierten Kongo und seine schwarzen Bewohner angezogen, womöglich noch mit Fahrrad zeigten. Auch in Paris wird dieser Aspekt nur am Rande und als noch heute lebendige Tradition, die sich in Bildern von Bürgerkriegen, sozialen Unruhen und von der Bedrohung durch Aids fortsetzt, nicht gezeigt.

Aber vielleicht braucht es das auch nicht. Denn anders als etwa bei Luc Tuymans’ blass raunenden Bildzitaten zur kolonialen Vergangenheit des Kongo, die der belgische Malerstar mit seinen verbalen Erläuterungen und politischen Kommentaren aus ihrem ästhetischen Koma erwecken muss, rufen noch Lubakis, Djilatendos oder Kayembes tierseligste oder abstrakteste Bilder unmittelbar unsere gerne etwas üppig blühende kulturelle Fantasie wie unser eher bescheidenes politisches Wissen auf.

Und genau darin ist die Schau grandios: Dass sie uns trotz all der fremden Kunst nicht exotisch kommt und uns das Denken nicht aus-, sondern lustvoll antreibt, und zu guter Letzt endlich wieder Staunen macht.

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