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Passwort weg, Schlüssel auchIm Meer des Vergessens

Unsere Autorin vergisst immer häufiger Absprachen und Gegenstände. Muss man sich Sorgen machen, wenn sich der Gedächtnisschwund schon mit 22 einstellt?

Für Vergessliche wäre es gut, aber leider steckt nicht immer ein Schlüssel in der Wohnungstür Foto: Sebastian Kahnert/dpa

I ch habe noch nie in meinem Leben eine Deadline vergessen. Das ist absolut kein Flex, sondern Ausdruck meines Zwangs, alles sofort zu erledigen. Wenn ich das nicht tue, sitze ich angespannt beim Abendessen mit Freun­d*in­nen und denke nur an meine anstehenden To-dos. Zumindest war das bis vor ein paar Monaten so. Aber das Problem ist ja: Es gibt immer etwas zu tun. Eigentlich würde ich also nie Ruhe finden – weshalb mein Gehirn eine neue Strategie entwickelt hat: Vergessen.

Und diese Strategie nutzt es in letzter Zeit leider etwas zu oft. Zum Beispiel bei dieser Kolumne: Ich habe es geschafft, nicht nur die erste Deadline, sondern gleich auch die zweite Verlängerung souverän gegen die Wand zu fahren. Oder heute Morgen: Mein Kaffee stand eine halbe Stunde auf dem Herd, während ich „kurz“ frische Luft auf dem Balkon schnappen wollte. Am Ende hatte ich keinen Kaffee, sondern eine Rauchbombe im Topf – Glück, dass ich nicht gleich die Feuerwehr rufen musste.

Aber das war nur der Prolog zum Wochenende des Vergessens. Ich hatte die Woche zuvor wohl etwas zu laut getönt, dass ich dringend eine Auszeit von meinem Alltag und meinem Handy brauche. Also flüchtete ich direkt aus Leipzig. Zelt aufbauen, tief durchatmen – noch ein letztes Mal Nachrichten checken. Dachte ich zumindest, bis ich meinen Handycode so oft falsch eingegeben habe – weil, man ahnt es schon, ich ihn vergessen hatte –, dass ich von da an nicht mehr erreichbar war.

Klar, man wird älter und damit vergesslich, aber ich bin zweiundzwanzig

Das wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, hätte ich nicht zwei Stunden später daran gedacht, dass an genau diesem Tag mein neuer Mitbewohner einziehen wollte und ich vergessen hatte, seinen Schlüssel im Briefkasten zu hinterlassen. Zum Zeitpunkt seines Umzugs – aus einer anderen Stadt – war natürlich niemand zu Hause und der Wohnungsschlüssel war bei mir, dachte ich zumindest. Glücklicherweise hatte ich ein paar Tage zuvor schon vergessen, unseren Vermieter wegen der kaputten Wohnungstür zu informieren. Die war nämlich kurz vorher aus dem Rahmen gebrochen, sodass mein Mitbewohner direkt zum Einzug seine handwerklichen Fähigkeiten testen konnte, indem er die Tür aus dem Rahmen gehoben hat und doch einziehen konnte.

Der Schlüssel in der Wohnung

Zum Zeitpunkt meiner Rückkehr allerdings war dann niemand zu Hause, die Tür wieder reingehoben und mein Schlüssel … in der Wohnung. Ja, denn den hatte ich darin vergessen.

Also: los, durch ganz Leipzig hetzen, um eine Freundin zu finden, die die Nummer meiner Mitbewohnerin hatte – nur um an den Ersatzschlüssel zu kommen. Vier Stunden später, verschwitzt, außer Atem und mit dem Gefühl, gerade einen Hindernislauf überlebt zu haben, hielt ich ihn endlich in der Hand.

Dass das in letzter Zeit so häufig passiert, ist gruselig. Klar, man wird älter und damit vergesslich, aber ich bin zweiundzwanzig und nicht siebzig, mein Gehirn ist noch nicht einmal richtig ausgewachsen. Aber alles, was nicht in meinem Kalender steht, existiert schlicht nicht. Um dem entgegenzuwirken, schreibe ich Tagebuch. Unter meiner Hochebene stapeln sich vierzehn Bücher seit meinem zwölften Lebensjahr. Damals schrieb ich meist vier Seiten pro Tag; Jugend, Gefühle und ungeduldiges Begehren sind akribisch dokumentiert.

Aber seit 2022, also all die Jahre, die ich in Leipzig wohne, sind alle Erinnerungen in einem einzigen Tagebuch versammelt. Meine Erinnerungen aus dieser Zeit existieren fast nur noch in kurzen, hingekritzelten Sätzen. Das schmerzt, wenn ich daran denke, wie ich jeden Abend über die Eisenbahnstraße gehe, manchmal fast weinend, weil ich nirgends so viele schöne Dinge erlebt habe wie hier. Klar, eine Deadline zu verpassen, ist ärgerlich – aber am Ende ist das nicht halb so schlimm wie die Vorstellung, die besten Jahre meines Lebens nur noch als blasse, unscharfe Bilder im Kopf existieren und sie schneller verschwinden zu sehen, als mir lieb ist.

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