„Pathemata“ von Maggie Nelson: Im überwältigenden Blutfluss der Worte
Essay zwischen Wissenschaft und Poesie: Maggie Nelson und das Schreiben in der Krise.

Die Altsprachler kennen womöglich Herodots Diktum „Pathemata Mathemata“ – „Leiden sind Lehren“. Eben darum geht es in Maggie Nelsons neuer Prosa-Collage, die in enger Verwandtschaft zu „Bluets“ steht, mit dem sie hierzulande bekannt geworden ist. Auch „Bluets“ ist ein Schmerzensbuch. Von ihrem Liebhaber verlassen, transzendiert sie ihren Blues zu einer poetischen, aphoristischen Kulturgeschichte der Farbe Blau.
„Pathemata. Die Geschichte meines Mundes“ hat seinen Ursprung ebenfalls in einer Leidenserfahrung. Eine Kieferfehlstellung, die Nelson schon als Kind Probleme bereitet hat, sie spricht undeutlich, ihre Zunge stößt gegen die Zähne und sorgt dabei für unschöne Zischlaute, verursacht seit einiger Zeit enorme körperliche Beschwerden. Jeden Morgen wacht sie auf mit dem Gefühl, „als habe mein Mund einen Krieg überlebt – er hat aufbegehrt, er hat sich versteckt, er hat gelitten“.
Sie unternimmt eine Odyssee durch die Praxen diverser Spezialisten und stenografiert ihre Leidensgeschichte mit. Das ist aber nur der Ausgangspunkt für weitere Abschweifungen und Reflexionen, Traumreferate und Alltagsilluminationen. Sie schreibt dieses Buch der Schmerzen, wohl nicht ganz grundlos in einer emotionalen Ausnahmesituation – während der Coronapandemie.
Existenzielle Unsicherheit und soziale Isolation machen ihr zu schaffen, verschärfend hinzu kommt die Abwesenheit ihres Mannes, der offenbar einen helfenden, systemrelevanten Beruf ausübt und insofern ständig außer Haus ist. Und nicht zuletzt der plötzliche Krebstod einer geliebten Lehrerin und Freundin C. Nach der Diagnose bleiben C gerade mal zwei Wochen, und wie so viele in dieser Zeit – infolge des grausam rigiden Hygiene-Regimes der Krankenhäuser – kann sie sich nicht angemessen von Familie und Freunden verabschieden.
Maggie Nelson: „Pathemata. Die Geschichte meines Mundes“. Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Hanser Berlin, München 2025. 87 Seiten, 22 Euro
Verlust der Magie
Doch Maggie Nelsons kranker Mund ist nicht nur der vermeintliche Schreibanlass, er hat auch eine ästhetische Funktion. Er steht als Symbol für das, was den Schriftsteller ausmacht – die Sprache. Und so ist dieses Buch auch eins über das Schreiben in der Krise. Sie bemerkt nämlich im Verlauf der Pandemie den Verlust der „Magie“ in ihrem Leben – und versucht dem schreibend etwas entgegenzusetzen.
„Ich führe Selbstgespräche, ein fraktales Innenleben. Ich versuche mich für andere Innenleben zu interessieren, wie das der Spülmaschine. Ich untersuche die Eierschale, die im kreisenden Sprüharm festhängt, der unergründlichen silbernen Scheibe, die über dem Nabel der Maschine schwebt. Ich frage mich, ob ich allein kraft meiner ganzen Aufmerksamkeit die Spülmaschine zu etwas Interessantem machen könnte. Vielleicht könnte ich ein Prosagedicht oder eine Reihe von Prosagedichten darüber schreiben wie Ponge.“
In Ermangelung sozialer Kontakte die Dinge zum Sprechen zu bringen, in der Tradition Francis Ponges, ist eine nachvollziehbare literarische Strategie. Sie erzählt einem befreundeten Schriftsteller davon und der lacht sie aus. Sie wolle ihm erzählen, dass es in ihrem nächsten Buch um ihre Spülmaschine gehe? Ein Missverständnis.
Natürlich liegt „die Magie nicht in der Spülmaschine“, sondern „im überwältigenden Blutfluss der Worte“, die davon künden. „Es ist wie bei Freuds Traumtheorie – es geht nicht um den Traum, sondern um das Erzählen des Traums – um die Worte, die man wählt, und die Risiken, die man eingeht, wenn man sein Innerstes nach außen kehrt.“
Poetik gleich mitgeliefert
Damit hat Nelson, wie eigentlich immer in ihren zwischen Wissenschaft und Poesie changierenden Essays, ihre Poetik gleich mitgeliefert. „Die Frage ist nicht, was du betrachtest, sondern wie du betrachtest & ob du siehst“, zitiert sie Thoreau aus seinen Tagebüchern von 1851. Sie sieht einiges.
Zu den schönsten Passagen gehören ihre Annäherungen an die krebskranke Freundin. „Ich höre die ganze Zeit Cs Stimme, wie sie sagt: ‚Maggie, meine liebe Maggie.‘ Niemand wird meinen Namen je wieder so sagen – keine Liebhaberin, kein Elternteil, kein Ehemann, keine Freundin. Die Art und Weise, wie C mich kannte, ist mit ihr gestorben; ich werde von jetzt an weniger geliebt sein, weniger gekannt.“
Doch nicht immer gelingt es ihr, die „Magie“ im Profanen mit Worten zu heben. Das Buch besitzt nicht ganz die poetische Strahlkraft der „Bluets“, vor allem fehlt ihren Prosastücken bisweilen die zwingende Kohärenz. Maggie Nelsons Prosa nähert sich dann einem dieser konventionellen Corona-Tagebücher.
Auch ihre Träume, in denen sich doch auffällig oft Deformationen im Dentalbereich manifestieren, sind als Grundlage einer Psychoanalyse sicher von großer Relevanz, aber nicht unbedingt literarisch. Stattdessen hätte man gern etwas mehr erfahren über ihre Ehekrise unter Pandemie-Bedingungen oder über ihren Sohn, den sie nun zu Hause beschulen muss und der als Person im Buch kein wirkliches Profil entwickelt. Da scheut sie offenbar ein paar Risiken.
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