Patti Smiths kleine Erzählung: Berührungen auf dünnem Eis

„Hingabe“ heißt Patti Smiths neues Buch. Es ist eine Geschichte über Leidenschaft und die Dinge, die uns an unserer Selbstverwirklichung hindern.

Patti Smith bei einem Konzert im Orpheum Theater in Boston

Liebt das Pathos, Patti Smith Foto: ap

Pathos ist schon lange nicht mehr en vogue. Umso seltsamer, wenn dem Leser das geballte literarische Pathos einer Ikone, einer Heldin eigentlich, entgegenschlägt. Das tut es nämlich in „Hingabe“, Patti Smiths neuem Buch, ihrem ersten fiktionalen. Schon das Wort Hingabe ist ein Reizwort, wann hätten wir denn, zwischen endlosem Smartphone-Gestreichel und semisüchtigem Serien-Binge-Watching, das letzte Mal etwas wirklich hingebungsvoll getan?

Smiths Heldin Eugenia ist Eis­tänzerin, der Tanz auf dem Eis wird ihr in jedem Frühjahr zur Mutprobe. Wenn das Eis ganz dünn wird und unter ihren zarten Füßen zu brechen droht, stellt sich ihr immer wieder aufs Neue die Frage: Weitermachen, auch wenn es das Ende bedeuten könnte? „Hingabe“ ist eine rätselhafte Erzählung über Passion und die Dinge, die uns daran hindern, uns selbst zu verwirklichen.

Eugenia wird in Estland geboren; ihre Eltern schicken sie mit ihrer Tante und deren reichem Liebhaber in die Schweiz, um dem Naziterror zu entkommen. Am zugefrorenen Teich taucht plötzlich ein Mann auf, einer, der Eugenias Sehnsucht nach dem Berührtwerden zu erfüllen scheint. Sie wird ihm zur formbaren Hülle, er benennt sie um in Philadelphia, umgibt sie jedoch nicht nur mit brüderlicher Liebe. Allzu viel vom Plot dieser kleinen Erzählung darf nicht enthüllt werden, um die verrätselten Motive nicht frühzeitig zu entzaubern.

Nur so viel zum Stil: Tonfall und Sprache, reich an Pathos und Ausschmückung, kennen Smiths Leser auch aus ihren nicht-fiktionalen Texten. Die kleine Erzählung selbst erhält eine Rahmung, gewissermaßen Vor- und Abspann, in denen den Lesern die zentralen Motive der Erzählung begegnen: Smiths Kindheitsbegegnung mit Eiskunstläuferinnen vor dem heimischen Fernseher und die Rührung, die sie dabei empfindet.

Oder Simone Weil, die Frau, die mit Hingabe bis zum Tode ihre philosophisch-humanistische Mission verfolgte. Oder die Begegnung mit dem Manuskript von Albert Camus’ „Der erste Mensch“, in der der Autor seinen Helden als Spiegel für die Erlebnisse der eigenen Kindheitsjahre benutzt.

Wie eine Gebrauchsanweisung

All diese Rahmungen sind wie ein Schlüssel, den die Autorin selbst fürs Verständnis ihres Textes liefert. Wie eine Gebrauchsanweisung liest sich das, nicht für den Text vielleicht, aber für das Verstehen des Schreibprozesses: Woher stammen die Motive, die ein Autor verarbeitet? Und warum werden sie in dieser, nicht in jener Form in den Text eingearbeitet?

Auf dieser Ebene ist „Hingabe“ enorm spannend, weil es die häufig gestellte Leserfrage „Wie kommen Sie auf ihre Stoffe?“ beantwortet: Sie drängen sich auf, Faden um Faden fügt sich, bis zum Schluss ein fertiges Textgewebe daliegt. Wer oder was mitgewebt hat, ist auch dem Autor am Ende nie so ganz klar.

Die Erzählung selbst liest sich streckenweise wie die Inhaltsangabe eines noch zu schreibenden Romans: Sie behauptet und vermerkt, bisweilen fehlen die Mittel zu zeigen. Für einen Roman, den der Stoff durchaus hätte hergeben können, mag Smith, die am liebsten bei schwarzem Kaffee in ihrem Lieblingscafé schreibt, der lange Atem gefehlt haben.

Zu ihren liebsten Erkundungsorten gehören Friedhöfe, auf denen die eigenen literarischen Helden begraben sind

Wie überhaupt Lebens- und Schreibweise einander bedingen: Smith ist eine Lesereisende. Bücher begleiten ihre Flugreisen, und zu ihren liebsten Erkundungsorten auf fremdem Boden gehören Friedhöfe, auf denen die eigenen literarischen Helden begraben sind. In „Hingabe“ findet sie auf beinahe magische Art zum vernachlässigten Grab Simone Weils, es ist die Geschichte einer Epiphanie.

Patti Smith: „Hingabe“. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 144 Seiten, 18 Euro

Ein guter Freund, dem ich vor einigen Jahren Smiths Erinnerungsbuch „M Train“ zum Lesen empfahl, ertrug die Prätention des Pathos nicht. Eingefleischten Smith-Fans begegnet dies ohnehin allenthalben in ihren Songtexten oder ihren wirklich schönen, die Social-Media-Logik sprengenden Instagram Posts, die stets mit denselben Worten beginnen: „This is …“

Das ist Patti Smith, das ist ihre neue Erzählung, das ist eine Ikone, das ist Hingabe ans ­Schreiben und eine wunderbar altmodische Art, Literatur, und die Verzauberung, die sie bewirkt, zu beschreiben.

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