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Petition gegen HaushaltskürzungEs geht um Leben und Tod

Rund 400 Menschen begehen in Berlin jährlich Suizid. Dennoch will der Senat bei der Vorsorge kürzen. Dagegen wehrt sich der Wohlfahrtsverband Caritas.

Seit 2017 gibt es in Berlin das Netzwerk Suizidpräven­tion, dem rund 80 Organisationen angehören Foto: David Wall/getty

Berlin taz | Inmitten einer Menschenmenge wartet er, bis die Ampel auf Grün springt. Er trägt Kopfhörer, schaut ernst, sieht eigentlich ganz normal aus. Was man von außen nicht sieht: Der Hauptcharakter des Kurzfilms „Echter Mann“ leidet an Depressionen. Darüber zu sprechen, fällt ihm schwer. Als ein Freund ihn auf der Arbeit fragt, was denn los sei, rastet er aus. Später wird er seiner Therapeutin sagen: „Emotional sein bedeutet die Kontrolle zu verlieren. Das kann ich mir nicht leisten.“

Mit dem Kurzfilm von Regisseur Vinsley möchte die Caritas Berlin, der katholische Wohlfahrtsverband im hiesigen Erzbistum, auf Suizide aufmerksam machen. Denn der gerade im Abgeordnetenhaus diskutierte Haushaltsentwurf des schwarz-roten Senats für 2026 und 2027 will in der Vorsorge kürzen. Dagegen wendet sich die Caritas mit der Petition #KürzenKostetLeben, die sie jüngst im Kino Hackesche Höfe vorgestellt hat. Dazu gab es den Film „Echter Mann“ und anschließend ein Gespräch über den Zustand der Berliner Suizidprävention.

Seit 2017 gibt es in Berlin das Netzwerk Suizidprävention, dem mittlerweile rund 80 Organisationen angehören. Dazu zählt beispielsweise die von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Pflege und Gesundheit geförderte Berliner Fachstelle Suizidprävention, die sich Öffentlichkeitsarbeit, Enttabuisierung und Aufklärung zur Aufgabe gemacht hat.

Benjamin Ochel leitet den dazugehörigen Krisendienst der Berliner Caritas, der rund um die Uhr und kostenlos erreichbar ist. Dort bietet er als Sozialpädagoge gemeinsam mit Kol­le­g:in­nen eine niedrigschwellige Beratung und Unterstützung für alle Menschen in Berlin an. „Das reicht vom Spektrum von ‚Ich kriege die Prüfungsarbeit nicht fertig‘ bis ‚Ich habe ganz akute Suizidgedanken‘“, sagt er.

90.000 melden sich beim Krisendienst

Etwa 90.000 Menschen melden sich dort pro Jahr, rund acht Prozent von ihnen sind suizidal. „Viele Telefonate beginnen mit den Worten: Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin“, sagt Ochel. Er entgegnet dann: „Natürlich sind Sie hier richtig.“

10.304 Menschen sind 2023 in Deutschland durch Selbstmord gestorben. Das sind fast doppelt so viele wie durch Verkehrsunfälle, Mord und illegale Drogen zusammen. In Berlin ist die Suizidrate mit 14,2 pro 100.000 Einwohnenden höher als der Bundesdurchschnitt. Männer und ältere Menschen sind besonders oft betroffen.

Allerdings sind die Statistiken zum Thema Suizidalität sehr ungenau. Etwa werden nur Fälle erfasst, bei denen es sich ganz eindeutig um Selbstmord handelt. Benjamin Ochel spricht von einem „Hellfeld“. Zu Suizidversuchen und den Gründen dafür gibt es hingegen keine Statistiken und so auch kaum Wissen. Es wird davon ausgegangen, dass es zehnmal mehr Versuche als tatsächlich vollzogene Suizide gibt. Frauen begehen häufiger Suizidversuche. Sie sterben aber dabei seltener als Männer: Bundesweit waren 2023 rund 73 Prozent der Suizidtoten männlich, in Berlin waren es 62 Prozent

Das habe komplexe Gründe. „Männer nehmen verhältnismäßig selten an Beratungsangeboten teil. Das heißt aber nicht, dass sie weniger Probleme oder weniger Unterstützungsbedarf haben“, sagt Ochel. Es gehe dabei um Männlichkeitsbilder, Tabus und Scham. „Männer in suizidalen Krisen wollen oft schnell wieder funktionieren“, sagt die Psychologin Laura Hofman von der Medical School Berlin bei der Vorstellung der Caritas-Petition.

Kampagne richtet sich an Männer

Deshalb richtet sich die Berliner Fachstelle Suizidprävention in ihrer Kampagne auch explizit an Männer. Etwa ist auf der Website ein Mann mit grauer Halbglatze und Falten zu sehen, dessen Mund mit einem roten Kreuz bedeckt ist. Daneben steht: „Schweigen kostet Leben.“

Sozialpädagoge Ochel ist überzeugt davon, dass jeder Mensch eine Alternative für sich finden kann, wenn er:­sie gute und passende Unterstützung erhält. „Wenn über Suizid gesprochen wird, muss immer gleichzeitig über die Hilfsmöglichkeiten gesprochen werden“, sagt er. Besonders gefährlich sei es hingegen, wenn Selbstmorde romantisiert würden, wie etwa in der Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“, die zu zahlreichen Nachahmungen führte.

Im Haushaltsentwurf des Senats soll die Finanzierung der Fachstelle – so Ochel – nun nicht mehr als eigener Punkt aufgeführt werden, sondern in einen Integrierten Gesundheitsplan (IGP) überwechseln. Und diesem neuen Topf werde insgesamt weniger Geld zur Verfügung gestellt als im Vorjahr. Bei welchen Projekten konkret gekürzt wird, ist derzeit unklar. „Wir machen uns große Sorgen, wie es weitergeht“, sagt Ochel.

Dabei hatte das Land Berlin erst kürzlich eine Suizidpräventionsstrategie beauftragt. Es soll die erste in ganz Deutschland und Berlin damit Vorreiter sein. Für die Strategie werden bestehende Maßnahmen gestärkt und neue entwickelt, die wiederum langfristig umgesetzt werden sollen. Das Ziel ist, die Suizide in Berlin bis 2030 um 30 Prozent zu reduzieren. Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen dienen dabei als Orientierung. Durch eine Kürzung wären, so sieht es die Caritas, alle Fortschritte und Pläne hinfällig. Zugespitzt könnte man sagen, es würde an Menschenleben gekürzt.

CDU-Abgeordnete verteidigt den Haushaltsentwurf

Der Termin im Kino in den Hackeschen Höfen richtete sich daher ausdrücklich an die Politik. Allerdings waren die Senatorin Ina Czyborra (SPD) und Norma Kusserow, Landesbeauftragte für psychische Gesundheit, trotz frühzeitiger Einladung nicht anwesend. Stattdessen nahm Claudia Wein (CDU) teil, die stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus.

Die CDU-Abgeordnete sprach weniger konkret über Suizide, sondern darüber, dass Einsamkeit ein riesengroßes Problem sei. „Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, sagte Wein. Den Haushaltsentwurf rechtfertigte sie damit, dass es eben unterschiedliche Meinungen gebe. „Ich bin hergekommen, weil es um Menschenleben geht“, sagte sie, „es geht aber auch an vielen anderen Stellen um Menschenleben.“

In der abschließenden Fragerunde meldete sich im Publikum ein Mann, der nach seinen Worten sechs Menschen durch Suizid verloren hat. „Ganz ehrlich, bei Menschenleben sollte man nicht sparen“, sagte er aufgebracht, „es ist so traurig, dass die Caritas diese Petition überhaupt ins Leben rufen muss.“

Haben Sie dunkle Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die Berliner Fachstelle für Suizidprävention oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter 112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter taz.de/suizidgedanken.

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