Pflegereport der Bertelsmann Stiftung: Mehr Pflege durch Bürokratie?

In Zukunft wird es mehr Menschen geben, die gepflegt werden müssen und nicht genügend Pflegende. Die Bundesländer suchen nach Wegen, das zu ändern.

Bald hat sie keine Zeit mehr fürs Händchenhalten: Pflegerin bei der Arbeit. Bild: dapd

BERLIN taz | Nicht einmal zehn Minuten hat Gisela H. für die alte Dame in Zimmer 8. Die ist 89 Jahre alt, lebt auf der Pflegestation eines Altenheims in Berlin und muss angezogen werden. Es ist kurz vor acht Uhr morgens, gleich gibt es Frühstück.

Bis dahin muss Gisela H. noch eine andere Frau anziehen, bei einer weiteren muss sie nach den offenen Beinen sehen. „Das muss fix gehen, sonst verzögert sich für alle der gesamte Tagesablauf“, sagt die Altenpflegerin, die mit ihrem Namen nicht in der Zeitung erscheinen will.

Die Probleme in der Pflege sind bekannt: kaum Zeit, zu wenig und mitunter ungenügend ausgebildetes Personal, Geldmangel. Und es wird noch dramatischer, prognostiziert der „Pflegereport 2030“ der Bertelsmann Stiftung.

Darin prognostizieren die AutorInnen – vor allem Pflegewissenschaftler von der Uni Bremen –, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,4 Millionen heute auf 3,4 Millionen im Jahr 2030 ansteigt. Allerdings steigt die Zahl der Pflegenden nicht in diesem Maße. Im Gegenteil: Bis 2030 sollen eine halbe Million Pflegekräfte fehlen. Wenn sich nicht bald etwas ändere, wachse das Risiko, pflegebedürftige Menschen „einer ungewissen, oft unhaltbaren Lebenssituation auszusetzen“, fürchtet Jürgen Gohde, Vorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe.

Mehr selbst bestimmen

Das Dilemma sollen nun Pflegekammern lösen helfen. Gerade hat Schleswig-Holstein als erstes Bundesland beschlossen, eine Pflegekammer zu gründen. In Rheinland-Pfalz, Bremen, Bayern, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern denkt man darüber nach. In Ländern wie England, Irland, Italien und Spanien sind Pflegekammern bereits Standard.

Die Idee, wie sie in Deutschland verstanden wird: Diese Selbstverwaltungsorganisationen sollen unter anderem Qualitätsstandards festlegen und diese auch kontrollieren – und dadurch auch Verantwortung für die Personalrekrutierung bekommen. Vergleichbar etwa mit den Ärztekammern, wäre eine Pflegekammer eine Interessenvertretung der Pflegekräfte, der größten Berufsgruppe im Gesundheitswesen.

Beim Deutschen Pflegerat hört man das gern, die Vereinigung für Pflegeverbände spricht sich schon lange dafür aus. So könnten „Ziele und Aufgaben durch die Berufsgruppe selbst definiert werden und nicht wie aktuell durch die Politik“, heißt es in einem Thesenpapier. Eine Kammer wäre an Gesetzgebungsverfahren beteiligt.

Doch Pflegekammern sind umstritten. Carola Bury, Referentin für Gesundheitspolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen, sieht darin eine unnötige Bürokratie, die den Beschäftigten wenig hilft: „Bessere Arbeitsbedingungen, höhere, angemessene Löhne – für diese notwendigen Änderungen kann eine Pflegekammer gar nicht sorgen. Sie verspricht viel mehr, als sie halten kann.“

Seltenheit in Deutschland

Eine Berufskammer für Angestellte – fast 90 Prozent der Pflegekräfte arbeiten in einem Angestelltenverhältnis – ist hierzulande ungewöhnlich. Gemeinhin organisieren sich in Kammern FreiberuflerInnen oder ArbeitgeberInnen, also Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Steuerberater. Hinzu kommt, dass eine Pflegekammer im Geschlechterverhältnis fast homogen wäre: Das Pflegepersonal in den ambulanten Pflegediensten besteht aus 88 Prozent Frauen, in den Pflegediensten sind es 85 Prozent.

Unter anderem deswegen befürworte sie eine solche Organisation, sagt Christine Vogler. „Pflegeberufe müssen sozial und finanziell aufgewertet werden, dafür wird eine Kammer sorgen“, sagt die Leiterin und Qualitätsmanagementbeauftragte der Berliner Gesundheits- und Krankenpflegeschule Wannsee. Mit einer höheren Anerkennung des Berufsstandes sei die Qualitätssicherung von Pflege gewährleistet, meint Vogler.

Das sieht auch Christel Bienstein so, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaft der Privatuniversität Witten/Herdecke. „Berufe, die über eine Kammer verfügen, profitieren in der Regel von einer besseren Ausbildung“, sagt Bienstein, die sich seit Jahren dafür einsetzt, Pflegeausbildungen durchlässiger und geradliniger zu gestalten.

Pflegerin Gisela H. weiß nicht, was sie von der vielschichtigen Debatte halten soll. Eines aber weiß sie: „Wenn ich noch strenger als jetzt kontrolliert werden soll, will ich keine Kammer.“ Andererseits fordert die 52-Jährige – so wie die meisten Pflegefachkräfte – mehr Entscheidungsfreiheit für ihre tägliche Arbeit. Sie sagt: „Wenn ich nicht jedes Mal den Arzt fragen muss, ob ich den Verband wechseln soll, ist das schon eine große Erleichterung.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.