Pfleger*innenmangel in Heimen: 40 Minuten mehr am Tag

Pflegeheime brauchen mehr Personal, um die Menschen würdig zu versorgen – das bestätigt ein Gutachten. Doch die Umsetzung verzögert sich.

Eine ältere Frau sitzt in einem Pflegeheim in ihrem Rollstuhl vor einem Tisch.

Personalmangel: „Für Gespräche ist oft zu wenig Zeit da“, sagt Pflegeökonom Heinz Rothgang Foto: Marcel Kusch

BERLIN taz | Es ist Alltag in Tausenden von Pflegeheimen: Die demenzkranke Dame sitzt am Abend teilnahmslos vor ihrem Teller mit klein geschnittenem Brot, einer Schale Grießbrei und einer Tasse mit Kräutertee. Eigentlich müsste eine Pflegerin sie jetzt ermuntern, ein paar Brotstücke zu nehmen, und sie anleiten, den Löffel zu ergreifen, mit Grießbrei zu füllen und zum Mund zu führen.

Aber die Pflegerin im Dienst muss noch neun weitere BewohnerInnen in der Spätschicht versorgen. Sie spricht kurz mit der Dame, füttert sie mit ein paar Löffeln Grießbrei und hält ihr die Tasse Tee an den Mund, die Bewohnerin nimmt einen Schluck.

„Für die Anleitungen und für Gespräche ist oft zu wenig Zeit da“, sagt der Bremer Pflegeökonom Heinz Rothgang, der solche Beispiele gut kennt. Rothgang hat im Auftrag der Pflegekassen, Sozialhilfeträger und Berufsverbände und im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit eine umfassende Studie zum Personalmehrbedarf in Pflegeheimen erstellt. Laut dem Pflegestärkungsgesetz II sollte dieses „wissenschaftlich fundierte Verfahren“ zur „einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs“ in Heimen bis zum 30. Juni 2020 „entwickelt und erprobt“ sein. Doch davon kann nicht die Rede sein.

Ein Zwischenbericht der Studie wurde bereits vor Monaten vorgestellt, doch der Abschlussbericht kreist noch durch die Abstimmungen mit Kassen, Sozialhilfeträgern und Branchenverbänden. Das Gutachten werde derzeit noch „beraten“, sagt eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums. Einen konkreten Zeitplan könne man nicht übermitteln.

99 Minuten pro Person am Tag

Die Voraussetzungen für eine Pflegereform haben sich durch Corona verschlechtert. Die Beitragseinnahmen der Kranken- und Pflegekassen sind durch die Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit wegen der Covid-19-Prävention gesunken, während die Gesundheitsausgaben stiegen. Überall in der Wirtschaft wird nach staatlicher Hilfe gerufen. „Das Risiko besteht, dass die Pflegereform aufgrund der schlechten Einnahmesituation wegen Corona hinten anstehen muss“, sagt Rothgang.

Dabei hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch bei Vorstellung der „Konzertierten Aktion Pflege“ erklärt: „Pflege muss wieder attraktiver werden. Das geht nur mit mehr Personal.“

Rothgang und seine MitarbeiterInnen haben den Personalmehrbedarf genauer errechnet. Sie schickten ForscherInnen in 62 ausgewählte Pflegeheime, die das Personal im Alltag genau beobachteten. Sie registrierten und dokumentierten, welche Unterstützungen aufgrund des Zeitmangels nicht geleistet werden konnten, obwohl sie eigentlich zu den in der Studie genannten pflegerischen Zielen gehörten, die „Unabhängigkeit und das Wohlbefinden“ der Pflegebedürftigen zu erhalten, zu erlangen oder wieder zu erlangen.

Im Schnitt stehen laut Studie pro BewohnerIn am Tag etwa 99 Minuten an Pflegezeit zur Verfügung. Den Pflegezielen entsprechend müssten aber im Schnitt 141 Minuten am Tag an Pflegezeit aufgewendet werden, ergab die Studie. Darin enthalten ist ein gutes Viertel an „indirekten“ Tätigkeiten, wozu organisatorische, hauswirtschaftliche und andere nicht personengebundene Tätigkeiten zählen.

„Ein Dschungel“

Der Personalmehrbedarf sollte laut Zwischenbericht vor allem durch Assistenzkräfte gedeckt werden, also durch PflegerInnen, die nur eine ein- oder zweijährige Ausbildung haben. Den Abschluss als „examinierte“ Pflegekraft bekommt man hingegen erst nach dreijähriger Ausbildung. Diese Zuweisung an Assistenzpersonal sei „äußerst kritisch zu sehen“, urteilt Christel Bien­stein, Präsidentin des Berufsverbandes DBfK. Die Fachkraftquote, dass nämlich 50 Prozent des Personals in Pflegeheimen „Examinierte“ mit dreijähriger Ausbildung sein müssen, würde damit aufgehoben.

Heute haben die Pflegeheime schon die größten Probleme, diese Fachkraftquote einzuhalten, da es an Examinierten mangelt. „Die Fachkraftquote ist in den 90er Jahren einmal festgelegt worden, um ein Signal zu setzen, dass die Qualität in der Pflege gesichert sein muss. Sie ist aber nie wissenschaftlich überprüft oder belegt worden“, sagt Stefan Görres, Alters- und Pflegeforscher in Bremen. Die vergleichsweise geringe Zahl der Examinierten auf dem Arbeitsmarkt stellt die Heime vor große Probleme. „Manche Heime müssen Abteilungen schließen, weil sie die Fachkraftquote sonst nicht sicherstellen können“, schildert Görres.

Unter den Assistenzkräften herrscht wiederum eine Vielfalt an Ausbildungen, teilweise unterschiedlich in den Bundesländern. „Das ist ein Dschungel“, sagt Görres. So gibt es HelferInnen, die nur einen Grundpflegekurs von 200 Stunden absolviert haben, dann MitarbeiterInnen mit einer einjährigen Ausbildung als AltenpflegehelferIn oder einer mindestens zweijährigen als Gesundheits- und PflegeassistentIn. Es ist eher möglich, auf dem Arbeitsmarkt PflegehelferInnen zu finden als examinierte Fachkräfte, zeigt sich in den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Die Ausbildungsgänge zur examinierten Alten- oder KrankenpflegerIn wurden seit dem 1. Januar 2020 in eine dreijährige generalistische Pflege-Ausbildung mit Examen zusammengelegt.

Mehr Personal kostet mehr Geld. Würde man die Zahl der Beschäftigten in Pflegeheimen von derzeit rund 760.000 Menschen nur um 20.000 Vollzeitkräfte aufstocken, so würde das bei tariflich bezahlten PflegehelferInnen mit einjähriger Ausbildung und mehrjähriger Berufserfahrung, die etwa 2.800 Euro brutto im Monat verdienen, 870 Millionen Euro im Jahr zusätzlich kosten.

Der Handlungsdruck steigt

Das Geld kann nur durch höhere Beiträge zur Pflegekasse, durch Steuermittel oder über die Eigenanteile der BewohnerInnen zusammenkommen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat den Vorschlag gemacht, die Eigenanteile der Pflegebedürftigen zu deckeln und einen Steuerzuschuss für die Pflegekosten zu gewähren. Doch um zusätzliche Steuermittel konkurrieren viele Unternehmen, Selbstständige, Städte und Gemeinden.

In der Pflege allerdings steigt der Handlungsdruck. Denn inzwischen geht es nicht mehr allein darum, die Pflegequalität für die BewohnerInnen zu verbessern, sondern den Pflegeberuf so attraktiv zu gestalten, dass sich überhaupt noch genug Personal dafür findet.

„Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ist nicht mehr flächendeckend gegeben“, sagt Herbert Mauel, Geschäftsführer des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). Heute könne, wer etwa eine Kurzzeitpflege oder einen Platz in einem Pflegeheim suche, sieben oder acht Absagen bekommen, bevor man endlich einen Platz finde. Pflegeheime führen zum Teil lange Wartelisten. Die Tatsache, dass heute Familienangehörige oft pflegerische Arbeiten ausführen, für die sie keine gelernten Kräfte in den ambulanten Diensten mehr finden, zeigt den Mangel. Überall fehlt Personal, während gleichzeitig die Zahl der Pflegebedürftigen zunimmt.

Der Pflegeschlüssel in den Heimen allein sagt aber noch nicht alles aus über die Zufriedenheit des Pflegepersonals. Umfragen hätten ergeben, dass in Mecklenburg-Vorpommern, wo der Pflegeschlüssel eher niedrig ist, sich die Beschäftigten trotzdem zufriedener zeigten als in Bayern, wo der Pflegeschlüssel vergleichsweise hoch ist, sagt Mauel.

„Liebevoll und wertschätzend“ oder „lieblos und unwürdig“

In der Rothgang-Studie berichten die ForscherInnen, dass die Stimmung in den Heimen und der Umgang mit den BewohnerInnen sehr „heterogen“ sei, teilweise „liebevoll und wertschätzend“, aber eben auch „lieblos und unwürdig“. Das hängt offenbar nicht nur mit den Personalschlüsseln zusammen. Die Verlässlichkeit eines Dienstplanes und der freien Tage sei für die Beschäftigten sehr wichtig, erklärt Mauel. „Wenn eine Pflegekraft weiß, dass sie jedes zweite Wochenende frei hat, dann erhöht das die Attraktivität des Berufes.“

Dass man bei Krankheitsausfällen der KollegInnen früh am Morgen von der Pflegedienstleitung angerufen wird und dann einspringen muss, obwohl man einen freien Tag hat, sorgt für Unzufriedenheit vieler Pflegekräfte. Zeitarbeitsfirmen werben um examinierte Kräfte auch damit, dass die Arbeitszeiten verlässlich im Vorhinein vereinbart werden.

„Es müsste Pools geben in den Einrichtungen mit Vertretungskräften, ­womit man dann beispielsweise Krankheitsausfälle ausgleichen könnte“, sagt Mauel. Ständig „aus dem Frei“ geholt zu werden in einem Beruf, der ohnehin Schichtarbeit verlangt, das sorgt bei den Beschäftigten für extra Stress und ein Gefühl mangelnder Wertschätzung.

Doch jede Verbesserung, um den Pflegeberuf auch für Jüngere attraktiv zu machen, wird nicht ohne höhere Kosten möglich sein. Ob diese Kosten dann von den Pflegebedürftigen und ihren Familien getragen werden müssen und damit das Pflegerisiko zum individuellen biografischen Risiko wird oder ob man die Versichertengemeinschaft oder die Steuerzahler damit belastet, das ist die politische Frage.

Görres erinnert sich noch an die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die Grauen Panther mit rotbefleckten Bettlaken gegen die Zustände in Pflegeheimen protestierten, in denen es damals noch Acht-Bett-Zimmer gab. Die „Abschiebung“ ins Heim galt damals als eine Art Höchststrafe. Heute sollen die stationären Einrichtungen akzeptierte Alternativen sein zur familiären Versorgung, die die Töchter und Schwiegertöchter wegen der eigenen Berufstätigkeit nicht mehr leisten können und wollen. „Da gibt es auch kein Zurück mehr“, sagt Görres.

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