Philosoph John Stuart Mill: In der Geiselhaft des Neoliberalismus

John Stuart Mill, Vordenker des Individualismus, wird gern zitiert, wenn es darum geht, den Einfluss des Staates zurückzudrängen. War er ein Kommunist?

Kommunismus, der den Namen verdient, ist ohne moralische Bildung nicht möglich, meint Mill. Bild: froodmat / photocase.com

„Freiheit“ ist – aus sattsam bekannten Gründen – derzeit ein vieldiskutiertes Thema. Einer der Säulenheiligen des vor allem neoliberal instrumentierten Freiheitsdiskurses ist der englische Philosoph John Stuart Mill (1806–1873), dessen 1859 publizierte Schrift „On Liberty“ (deutsch: „Über die Freiheit“, 1974) zu den eher beschworenen denn tatsächlich gelesenen und durchgearbeiteten Texten der politischen Philosophie gehört.

Seine umfangreiche Schrift über die Freiheit gilt als rigorose Verteidigung individueller Selbstbestimmungsrechte, eine Verteidigung, die Mill allerdings nicht utilitaristisch, das heißt aus Nutzenkalkülen heraus begründet, sondern aus einer geradezu idealistischen Vorstellung davon, dass nur individuelle Selbstbestimmungsrechte den Fortschritt der Menschheit im Ganzen befördern können. Unter diesen Selbstbestimmungsrechten hebt Mill insbesondere die Meinungsfreiheit hervor.

Bemerkenswert ist, dass Mill einer der ganz wenigen englischen Philosophen war, der die deutsche idealistische Philosophie zur Kenntnis genommen hat, zumal Wilhelm von Humboldts „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“. In dieser Schrift vertritt Humboldt die These, dass der „wahre Zweck des Menschen die höchste und proportonierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ sei, wozu „Bildung zur Freiheit“ die erste Bedingung sei. Zudem plädiert Mill in „On Liberty“ kompromisslos für Rechtsstaatlichkeit und gegen staatliche Übergriffe. Fraglich ist allerdings, ob Mill deshalb auch, wie von neoliberaler Seite unterstellt, ein Marktradikaler im Bereich der Ökonomie war.

Diesen Eindruck gewinnt man schnell, wenn man sich etwa mit der Theorieproduktion Friedrich August von Hayeks auseinandersetzt – eines Theoretikers, der sich von Pinochet ehren ließ und befristeten Diktaturen durchweg einiges abgewinnen konnte. Für ihn war Mill eine wichtige Anregung, ohne dass er ihm in allem zugestimmt hätte. So kann sich Hayek in seinem Hauptwerk „Die Verfassung der Freiheit“ einiger Argumente Mills aus „On Liberty“ gegen einen Fürsorge- und Interventionsstaat bedienen, meinte doch Mill, dass die Verstaatlichung etwa von Straßen, Universitäten, des öffentlichen Bildungswesens oder der Gemeindeverwaltungen am Ende Meinungs- und Pressefreiheit gefährden würde.

Freiheitlicher Sozialismus

Freilich: „On Liberty“ aus dem Jahr 1859 sollte nicht Mills letztes Wort zu Fragen der ökonomischen Organisation der Gesellschaft bleiben. Nach „On Liberty“ erschienen postum nicht nur 1873 seine Autobiografie, sondern 1879 noch seine wenig bekannten und in aller Regel unterschlagenen „Chapters on Socialism“. Hier näherte sich der späte Mill einem freiheitlichen Sozialismus ebenso an, wie er völlig vorurteilsfrei und sachlich die Möglichkeit einer nicht nur sozialistischen, sondern sogar kommunistischen Gesellschaft erörterte.

Mill, entschiedener Befürworter der politischen Gleichberechtigung von Frauen und scharfer Gegner des britischen Kolonialismus, offenbarte sich in seiner Autobiografie als jemand, der eine strikt am Gedanken sozialer Gerechtigkeit orientierte Politik anstrebte, ohne doch genau zu wissen, wie dieses Ziel institutionell umzusetzen sei. Es ist unerlässlich, ihn dazu mit einem längeren Zitat selbst zu Wort kommen zu lassen.

„[…] doch ging unser Ideal von definitiver Verbesserung weit über die Demokratie hinaus und würde uns entschieden unter die Gesamtbezeichnung ’Sozialisten‘ einreihen. Während wir mit allem Nachdruck die Tyrannei der Gesellschaft über das Individuum verwarfen, die man den meisten sozialistischen Systemen unterstellt, nahmen wir doch eine Zeit in Aussicht, in welcher die Gesellschaft sich nicht mehr in Arbeiter und Müßiggänger spalten würde – in welcher die Regel ’wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘ nicht bloß auf die Armen, sondern unparteiisch auf alle Anwendung findet – in welcher die Verteilung des Arbeitserzeugnisses, statt, wie es jetzt in hohem Grade geschieht, vom Zufall der Geburt abzuhängen, durch einstimmige Beschlüsse oder nach anerkannten gerechten Grundsätzen vor sich geht – in welcher es nicht länger unmöglich sein oder für unmöglich gehalten wird, dass menschliche Wesen sich eifrig bemühen und Vorteile schaffen, die nicht ausschließlich ihnen, sondern auch der Gesellschaft, der sie angehören, zu gute kommen.“

Mills Lösung für dieses Problem besteht in einem Erziehungsprogramm vor allem für die abhängig Beschäftigten, auf das hier nicht weiter einzugehen ist; hervorgehoben sei lediglich, dass er eine beklagenswerte Unterentwicklung des Gemeinsinns feststellt. In den späten „Chapters on Socialism“ setzte er sich mit den französischen Frühsozialisten, namentlich Fourier und Comte, auseinander – und zwar aus einer Haltung heraus, die den Zustand der Welt seiner Zeit eindeutig verurteilte.

„Chapters on Socialism“

Schon im zweiten Buch seiner früheren Studie zur politischen Ökonomie hieß es überdeutlich: „The restraints of Communism would be freedom in comparison with the present condition of the majority of the human race.“ Daher verwundert es nicht, dass der individualistische Mill in seinen „Chapters on Socialism“ sich in besonders wohlwollender Weise für einen dezentralisierten, genossenschaftlichen Sozialismus einsetzt – eine Wirtschaftsform, die freiwillig gebildetes, gemeinsames Eigentum an Produktionsmitteln einschließt und somit individuelle und kollektive Selbstbestimmung auf dem Gebiet der Ökonomie miteinander verbindet.

Provozierender noch sind freilich seine Ausführungen zu einem nicht nur freiwillig genossenschaftlich, sondern sogar staatlich verfassten Kommunismus, dem er konzediert, möglicherweise in Zukunft jene Gesellschaftsform zu sein, die den Wünschen und Lebensumständen der Menschheit am besten entspricht. Diese Annahme wird, so Mill, lange Zeit eine offene Frage bleiben.

Hervorzuheben ist hier vor allem, dass John Stuart Mill – anders als die Neoliberalen oder auch noch die deutschen Ordoliberalen – Freiheit und Individualismus grundsätzlich nicht an das Privateigentum an den Produktionsmitteln und das individuelle Profitinteresse bindet, sondern es für eine offene Frage hält, welche Wirtschaftsform der Entfaltung der Menschheit besser dient.

In einem Punkt freilich wies Mill geradezu prophetische Gaben auf: Er sah klar, dass eine moralisch unreife Bevölkerung, wie sie in den meisten kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts vorzufinden war, das kommunistische Prinzip nicht würde umsetzen können: Ihm war gewiss, so das vierte Kapitel der „Chapters on Socialism“, „that Communism, to be successful, requires a high standard of both moral and intellectual education in all the members of the community“.

Höchste moralische Bildung aller

Mit anderen Worten: Kommunismus kann, wenn überhaupt, nur der Endzustand einer hoch entwickelten demokratischen und Reichtümer akkumulierenden Gesellschaft sein – Karl Marx sah das in einer Hinsicht nicht anders: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ – so das „Kommunistische Manifest.“

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen blutig und totalitär gescheiterten sozialistischen Revolutionen hat Mill gegen Marx und Engels so weit Recht gegeben, als „Kommunismus“ eben mehr als die reale Bewegung von Klassenkämpfen ist. Sie hat gezeigt, dass ein Kommunismus, der seinen Namen verdient, ohne höchste moralische Bildung aller nicht zu haben ist.

Dazu ist jedoch mehr vonnöten als das ja durchaus verständliche Ressentiment gegen erfahrene Ungerechtigkeit. Aus der berechtigten Ablehnung des Ressentiments jedoch folgt noch lange keine Rechtfertigung menschlichen Eigennutzes, wie das die Ideologen des Marktradikalismus unter dem Schlagwort „Eigenverantwortung“ noch immer predigen.

Es ist höchste Zeit, John Stuart Mill und sein Denken aus der babylonischen Gefangenschaft des Neoliberalismus zu befreien und ihn als sorgfältigen Vordenker einer wirklich freien Gesellschaft neu zu entdecken.

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