Piraten-Parteitag in Bochum: Träume von einer besseren Welt

Die Anträge für das Piraten-Parteiprogramm gleichen einer Wünsch-dir-was-Liste. Ob das reicht, um die Leerstellen zu Wirtschaft und Außenpolitik zu füllen?

Die Anträge für das neue Parteiprogramm: Wie eine bunte Wünsch-dir-was Liste. Bild: dapd

BERLIN taz | Wenn man die 1.464 Seiten Antragsbuch durchgelesen hat und sich die Welt vorstellt, die entstünde, wenn alles so umgesetzt ist, muss man unweigerlich selig lächeln. Es wäre eine bessere Welt: Landwirtschaft ohne Gentechnik und Massentierhaltung, man bekommt einen guten Mindestlohn bezahlt, wenn man überhaupt arbeiten will. Wer will, kann kostenlos mit dem Zug durch ganz Europa fahren und hat selbstverständlich jederzeit optimalen Zugang zum Internet.

Die Piratenanträge gleichen einer schier unüberschaubaren Wünsch-dir-was-Liste. Es wäre aber unfair, dieses Gesamtbild so stehen zu lassen und undurchdachte oder schlicht populistische Vorschläge als repräsentativ anzusehen. Denn die Anträge für den Piratenparteitag am Wochenende in Bochum sind von Inhalt und formaler Qualität so heterogen wie die Piraten. Und: Vorher wird nichts aussortiert, das widerspräche dem basisdemokratischen Prinzip der Partei.

Personalentscheidungen stehen nicht an auf dem zweiten Bundesparteitag in diesem Jahr, die Piraten wollen vielmehr festzurren, für was sie eigentlich stehen. Vor allem auch in der Außen- und Wirtschaftspolitik – denn da ist das Programm noch sehr leer.

Bundestag: Knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl 2013 liegen die Piraten in den Umfragen zwischen 4 und 5 Prozent – sie müssen um den Einzug in den Bundestag bangen. Sollte es die Partei schaffen, dann hätte das Auswirkungen auf mögliche Regierungskoalitionen: Dadurch, dass mehr Fraktionen vertreten wären, würde Rot-Grün unwahrscheinlicher – und eine Große Koalition wahrscheinlicher. Eine Beteiligung von Piraten an einer Regierung ist momentan kaum vorstellbar.

Niedersachsen: Die Piraten müssen um die Teilnahme an der Landtagswahl bangen. Landeswahlleiterin Ulrike Sachs äußerete sich am 22. November skeptisch über die Chancen der Partei, für die Wahl im Januar mit einer Landesliste antreten zu dürfen. Die Entscheidung fällt am Freitag, den 23. November, der Landeswahlausschuss. Nach Angaben von Sachs haben selbst Mitglieder der Partei bei der Landeswahlleitung dafür plädiert, die Landesliste nicht zuzulassen. Parteiintern gibt es Diskussionen darüber, ob die Liste rechtmäßig zustande gekommen ist. Wegen formeller Fehler waren mehrere Parteitage nötig, Redezeiten waren unterschiedlich lang. (se/dpa)

Es geht für die Piraten also um einiges, nämlich darum, ob sie fit werden für den Bundestagswahlkampf. Und ob sie ihr Anliegen, vor allem auch die Art und Weise der Politikgestaltung aktiv zu ändern, verwirklichen können. Noch immer klebt ihnen das Label „Internetpartei“ an, die außer Transparenz und Beteiligung nicht viel zu bieten hat. „Dazu haben die Piraten noch keine Meinung“ – ist dieser Satz bald Geschichte?

In welche Richtung sich das Piratenprogramm entwickeln wird, ist schwer vorherzusagen. Die Partei kennt keine Delegierten, die Basis entscheidet, zumindest jene der mehr als 34.000 Mitglieder, die zum Parteitag kommen. Zwischen 1.500 und 2.000 Teilnehmer werden erwartet. Wer kommt, wer wie abstimmt und für welche Anträge die nötige Zweidrittelmehrheit erreicht wird – das ist völlig offen.

Vielleicht den Verfassungsschutz abschaffen?

Rund 800 Anträge wurden gestellt. Zum Grundsatz- und zum Wahlprogramm für die Bundestagswahl, für Satzungsänderungen und Positionspapiere. Für alles reicht die Zeit niemals, und es ist unklar, was überhaupt drankommt. Die Reihenfolge bestimmt die Versammlung, bislang gibt es nur Vorschläge für Tagesordnungen, über die online abgestimmt wurde.

Es wurden einige Themenbereiche nach vorne gewählt, bei denen die Piratenpartei sich schon vergleichsweise ausführlich in Stellung gebracht hat: Transparenz, Bürgerbeteiligung, bedingungsloses Grundeinkommen. Aber es zeichnet sich darüber hinaus ab, zu was die Piraten Entscheidungen treffen wollen.

Es gibt einen Flügel, der Ausländern und speziell Asylbewerbern mehr Rechte geben will. Die Forderung nach einer Abschaffung des Verfassungsschutzes könnte sich zu einer Piratenposition entwickeln. Bei der Umweltpolitik dominieren klar Bekenntnisse zu einem schnellen Atomausstieg und nachhaltiger Energieversorgung.

Zur Wirtschaftspolitik findet sich zum einen ein Mix an Vorschlägen: ein einheitlicher Mehrwertsteuersatz von 25 Prozent, ein „Schuldenschnitt als Alternative zum ESM“ oder eine „Neue Deutsche Mark parallel zum Euro“. Aber auch drei ausführliche Entwürfe für ein Grundsatzprogramm stehen zur Diskussion. Eines davon hat die Unternehmensberaterin Laura Dornheim mit drei Mitstreitern entwickelt.

Unter den Schlagwörtern „Freiheit, Transparenz, gerechte Teilhabe“ werden viele Piratenpositionen aufgegriffen: (betriebliche) Mitbestimmung, Ausbau des freien Internets, der Abschied vom Ziel der Vollbeschäftigung.

„Hauptsache, kein Neoliberalismus"

Die Forderungen könnten teils aus dem Fundus der FDP stammen, teils aus dem der Linkspartei, meist sind sie abwägend: Ja zur staatlichen Regulierung, aber keine zu starren Vorgaben. Globalisierung wird als positiv gesehen, aber „sie muss dem Gemeinwohl aller Menschen dienen“. Insgesamt eher mehr Staat als weniger.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir einen Wirtschaftsantrag beschließen“, sagt Dornheim. Sie sieht in jedem Fall Kompromissmöglichkeiten: „Ich könnte auch mit den anderen beiden Anträgen leben.“ Hauptsache, kein Neoliberalismus. Und es sei wichtig, dass endlich etwas beschlossen wird, „auch für die eigene Identitätsfindung“.

Außenpolitisch gehen die Vorschläge hin zu einer ausgesprochen europafreundlichen Politik, die mit einer Demokratisierung der EU-Institutionen einhergeht. Das Thema Militär wird sehr kritisch gesehen, es gibt Anträge für „einen baldmöglichsten Abzug“ der Bundeswehr aus Afghanistan oder gleich deren Abschaffung. Die Piraten haben viele Anträge zu ihren Lieblingsthemen erarbeitet: Drogen sowie Trennung von Staat und Religion.

Bei manchem ist offenkundig, dass es nicht allzu ernst gemeint ist („friedliche, nachhaltige und schonende Besiedlung des Mars“). Es gibt konkrete Forderungen zu Gesundheit- oder Familienpolitik, andere sind sehr speziell: Ein „europäisches Jugend-kennenlern-Programm“ etwa, mit dem die EU Schülern die Möglichkeit finanziert, „individual für 4 Monate kostenfrei alle Mitgliedsländer der Union zu bereisen“.

Der Programmantrag 127

Sebastian Nerz, stellvertretender Bundesvorsitzender der Piraten, gibt sich optimistisch, dass der abstimmende Schwarm schon erkennen wird, wenn Anträge die Partei nicht wirklich weiterbringen. 50 bis 100 Anträge werden sie schaffen, vermutet er. Am Sonntagabend, so seine Hoffnung, ist zumindest das Grundsatzprogramm so weit ausgebaut, dass klar ist, für welche Vision die Piraten stehen. Dann könne im Nachklapp das Wahlprogramm verfeinert werden und Bundestagsabgeordnete hätten Leitlinien für die Tagespolitik der Piraten.

Nerz ist im Vorstand für den Bundestagswahlkampf zuständig, es könnte aber passieren, dass er seine Aufgabe gar nicht ausfüllen darf: Wenn nämlich der Programmantrag 127 angenommen wird. Der Antragsteller befürchtet „politische Zwänge“ und die „Korrumpierung durch Macht“. Seine Forderung ist kurz und knapp: „Die Piratenpartei und ihre Mitglieder treten 2013 nicht zur Bundestagswahl an.“

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