Piratin auf verlorenem Posten: Ohne Chance für Europa

Die Bremerin Martina Pöser ist zwar Vize-Vorsitzende der Europa-Piraten, wird aber wohl nicht ins EU-Parlament kommen. Sie denkt längst zu europäisch.

Die Vize-Chefin der Europa-Piraten Martina Pöser ist selbst in ihrer Heimat Bremen kaum bekannt. Bild: Benno Schirrmeister

BREMEN taz | Die Europakandidatin heißt Martina Pöser und steht jetzt links vorne in der Ecke, vor ihr ein Tischchen, hinter ihr ragt eine staubige Pflanze: großer Clubraum, Konsul-Hackfeld-Haus, Bremen, 19 Uhr. Was noch fehlt, ist ein Kabel, um Laptop und Beamer zu verbinden.

In der Wartezeit pirscht sich einer an Pöser heran. Er sieht so nerdig aus, dass seine nähere Beschreibung gegen die goldene Regel verstieße, Klischees zu vermeiden. Er berichtet von einer Möglichkeit, das Verbuchen von Spendenquittungen zu automatisieren. Wahrscheinlich ist er der neue Bezirkskassenwart. Pöser antwortet mit einer Art hochtönigem Summen auf „Mmmh“, fast als wollte sie ein Lied anstimmen, und sie errötet leicht.

Dann kommt das Kabel.

Der Vortrag heißt: „Kein TTIP mit uns!“ Die verspiegelte, linke Seitenwand des großen Clubraums verdoppelt scheinbar, bösartig, nur die Lücken in den Stuhlreihen. Erschienen sind, außer der Referentin und der übergewichtigen Presse, sieben Personen, alle Mitglieder bei den Bremer Piraten.

Ein multinationales Programm

Mit den Piraten war man ja eigentlich durch. Dicker Haken dahinter. Vorbei. Ewig liegen die Senkrechtstarts in Berlin, NRW und Schleswig-Holstein zurück, ewig die tollen Umfragewerte. Spätestens die sechsmonatige Kandidatenkür für die Niedersachsen-Wahl hatte die Wertung von „lustige Polit-Laien“ auf „abgefuckte Freaks“ verschoben, bei denen rechte U-Boote auftauchen, deren Bundesvorstand sich cybermobbt und zurücktritt. Eine Frau zeigt Brüste. Eine schreibt ein Buch. Der neue Vorstand wird gewählt, tritt gleich wieder zurück. Das Remmidemmi bleibt, das Medien-Echo auch: schrill, laut, hohl.

Auf europäischer Ebene läuft’s exakt umgekehrt. Auch wegen Pöser. Die hat mitgewirkt am Manifest, auf dessen Basis sich am 21. 3. die europäische Piratenpartei gegründet hat, in Brüssel. Dort ist sie zur Vize-Vorsitzenden gewählt worden, Nummer zwei hinter der schwedischen Europaabgeordneten Amelia Andersdotter, und sie sei auch schuld, sagt Pöser, dass man sich auf ein multinationales Wahlprogramm verständigt hat, was eine Leistung ist. Resonanz? In Deutschland: null.

Das liegt nicht nur an der Unlust der Presse. Bis Januar hatte Pöser ihre politische Arbeit fast komplett unter dem Alias @LunaLoof betrieben, was an eine verträumte Figur aus „Harry Potter“ erinnert. Keine Fotos, keine Interviews.

Die Häme der "heute-show"

Ein Parteitagsauftritt zog die Häme der ZDF-„Heute Show“ auf sich, wegen des silbernen Elfen-Anhängers, den die Verwaltungsjuristin gern trägt. „Bei der Arbeit“, sagt sie, „habe ich mich erst jetzt geoutet“: Die Wahlkampftermine waren mit dem Dienstplan abzustimmen.

Pöser steht, als deren einzige norddeutsche Kandidatin, auf Listenplatz 9 der Piraten. Sie arbeitet im niedersächsischen Amt für Verbraucherschutz in Oldenburg. Sie pendelt dorthin von Bremen, wo sie im Stadtteil Walle lebt. Daran wird der 25. 5. nichts ändern. Vor zwei Jahren, ja, da hätte Listenplatz 9 zu Hoffnung auf einen Sitz im Europaparlament berechtigt. Martina Pöser, heute, weiß: Sie kriegt kein Mandat. Und hinter diese Erkenntnis setzt ein Blick in den großen Clubraum noch mal ein dickes Ausrufezeichen.

Um zu kapieren, dass das bedauerlich ist, muss man länger da bleiben.

Sie sei „jetzt sicher nicht die Person, die vorne steht und große Reden hält“, hatte Pöser vorher gewarnt. Das stimmt. Ihr Vortrag handelt davon, dass die „Transatlantic Trade and Investment Partnership“, also TTIP, das Freihandelsabkommen, das EU und USA hinter verschlossenen Türen austüfteln, Chancen hat, aber vor allem Risiken birgt.

Kompetent, gründlich, fair

Rhetorisch bleibt er auf dem Niveau eines guten Uni-Referats – kompakt und wissensstark. Schon ihre Master-Arbeit handelte ja von TDCA, dem Freihandelsabkommen zwischen EU und Südafrika. Sie kennt etliche der internationalen Vereinbarungen, Nafta, Ceta, Asean, Trips und Mercosur, kennt auch deren jeweilige Wirkungen, ahnt, wozu die EU bereits 1.400 bilaterale Abkommen geschlossen hat: „Es ist eine richtige Ideologie.“

Deshalb, das ist ihr Punkt, wäre die Formulierung von Prinzipien für solche Verträge fast wichtiger, als nur gegen TTIP zu protestieren – „gegen das wir dringend vorgehen müssen!“ Das unplausible Schreckbild des Chlorhähnchens, das die Presse liebt, taucht in ihrer Präsentation nur kurz in Klammern auf. Das wirkt kompetent, gründlich, fair. Nur halt nicht wie Wahlkampf.

Und manchmal, und doch: Vergleichsweise oft drängt ein inneres Lachen in die Artikulation, ein fröhlich zitterndes Glucksen, jenes klingende „Mmmh!“, zum Beispiel wenn sie einen der Ausdrücke des Vertragsjargons in den großen Clubraum stellt: „Nichttarifäre Handelshemmnisse“, sagt sie. Und „Mmmh!“, tönt sie.

Ein Tic. Besser wäre, ihn zu überhören, wenigstens bis sich die sarkastische Komik des Euphemismus erschlossen hat, also bis Pöser erklärt haben wird, dass „Hemmnis“ im Freihandelsvertragsdeutsch das bedeutet, was sonst „Standard“ heißt: Umwelt-, Daten-, Verbraucher-, Klima- und Gesundheitsschutz- sowie Sozialstandards sieht die Freihandelsideologie als Störung. Und erst deren Beseitigung ergibt das Wachstum, mit dem die EU-Kommission TTIP bewirbt.

Noch problematischer ist, dass sich jene Bereiche so dem künftigen demokratischen Zugriff entziehen: ein europäischer Atomausstieg? Nicht mit unsrem TTIP. Ein Fracking-Verbot für Schleswig-Holstein? Ein klarer Verstoß gegen den Vertrag. Und der lässt sich nur ändern, wenn auch der Partner zustimmt.

Europawahlkampf - eine riskante Investition

Europawahlkämpfe sind eigenartig. Es ist klar, dass TTIP unser Leben beeinflussen kann, es ist bekannt, dass viele deutsche Gesetze ins nationale System übertragene EU-Verordnungen sind, und seit dem Lissabon-Vertrag, seit 2009 also, gestaltet das Europaparlament dabei richtig ein bisschen mit. Auch liegt Europa den Parteien am Herzen. Sagen alle.

Zugleich aber erfasst sie beim Europawahlkampf eine bleierne Müdigkeit, umso schwerer, je näher andere Kampagnen liegen: Letztes Mal, 2009, stand die Bundestagswahl kurz bevor, diesmal steckt sie noch in den Knochen. In Hamburg und Bremen sind zudem 2015 Bürgerschaftswahlen fällig, kluge Landesschatzmeister bilden dafür Rücklagen, um knallige Kampagnen zu finanzieren. Denn das lohnt: Regierungsbeteiligungen wären der Grand Chelem, aber letztlich bringt jedes Mandat der Partei Kohle, jedes Abgeordnetenbüro bedeutet prima Jobs für treue Anhänger und aufstrebende Talente.

Die Rendite der Europawahl ist dagegen mies. Während es bei einer Bundestagswahl pro Wahlkreis bis zu zehn Mandate gibt, geht’s für Europa nur um 96 Sitze bundesweit, also 25 weniger als im Hamburger Landtag. Daher spielen im Europawahlkampf die Chancenlosen eine Hauptrolle, Leute wie Martina Pöser, die von sich sagt: „Mich interessiert vor allem Europa“ – und „die Themen sind mir wichtig“, weshalb sie die große Nähe eigener Forderungen zu denen der Grünen für unproblematisch hält: „Ich sehe das weniger als Konkurrenz“, sagt sie.

Ja, sie findet es sogar „eher gut“, dass ein Jan-Philipp Albrecht auch im Europaparlament ist. Dabei hat der Grünen-Kandidat von Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen doch fast ein TV-Monopol bei Themen wie Netzsperren und NSA-Skandal erobert, wo man sonst vielleicht mal einen Piraten gefragt hätte. „Er teilt viele unserer Positionen“, beschreibt das Pöser sachlich völlig korrekt.

„Danke für die Aufmerksamkeit!“, steht auf der letzten Folie, ein Comic-Seeräuber winkt. Aus den Wallanlagen spiegelt eine Spur Sonnenuntergang in den Raum, durch die verglaste Rückwand. Kaum Diskussion nach anderthalb Stunden Vortrag, allenfalls: Ob sich TTIP denn überhaupt noch beeinflussen …? „Wenn man völlig hoffnungslos wäre“, antwortet Pöser, „bleibt man am besten zu Hause und spielt Schach.“

Dann schaltet sie den Computer ab.

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