Politologe über Wahlrechtsreform: „Das beste zweier Welten“

Das Wahlrecht muss reformiert werden, weil der Bundestag immer weiter wächst. Der Politologe Bernhard Weßels über Demokratie- und Machtfragen.

Draufsicht auf die Sitze im Bundestag.

Der Bundestag 2019: mit 709 Abgeordneten das größte Parlament aller westlichen Demokratien Foto: Michael Kappeler/dpa

taz: Herr Weßels, keine andere westliche Demokratie hat ein so großes Parlament wie wir – die französische Nationalversammlung hat zum Beispiel 577, das US-Repräsentantenhaus 435 Mitglieder. Der Bundestag hat 709. Warum?

Bernhard Weßels: Das hat mit dem Urteil des Bundesverfassungsgericht aus dem Jahr 2012 zu den Überhangmandaten zu tun. Also jenen Mandaten, die entstehen, wenn eine Partei in den Wahlkreisen mehr Mandate erringt, als sie nach Zweitstimmenanteilen hätte. Problematisch wird es, wenn eine Partei extrem viele Wahlkreise gewinnt. Früher wurden diese Überhangmandate bei den anderen Parteien nicht ausgeglichen, das ist aber laut Bundesverfassungsgericht nicht korrekt. Deshalb wächst seitdem das Parlament.

Ist unser Wahlrecht besonders demokratisch?

Wir haben ein gemischtes Wahlrecht, von dem es in der Literatur heißt, es sei das beste zweier Welten: also der Mehrheitswahl, wo in einem Wahlkreis ein Kandidat gewählt wird, und der Verhältniswahl, also der proportionalen Wahl von Parteilisten. Diese Mischung macht aus meiner Sicht Sinn.

Was heißt das genau?

Bei den Direktmandaten wird die Mehrheit repräsentiert. Dort ist Politik lokal angebunden und Verantwortlichkeit klar zurechenbar. Bei der Verhältniswahl geht es um kollektive Repräsentation, da sind die Parteien die Spieler, die dafür sorgen, dass dieses kollektive Mandat erfüllt wird.

Das ist so kompliziert, dass es viele nicht mehr verstehen. Kann das demokratisch sein?

Ja, das ist eine Frage. Wir fragen in unseren Wahlstudien immer auch nach der Erst- und Zweitstimme und wofür sie sind. Es wissen 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Bescheid.

Heißt auch: 40 Prozent verstehen es nicht. Wirkt das nicht abschreckend?

Da letztlich ja die prozentualen Ergebnisse entscheidend sind, besteht zumindest nicht die Gefahr, dass das Wahlergebnis verfälscht wird, weil man sich mit der Erst- und Zweitstimme vertut. Insgesamt ist das Wählen bei uns eine relativ einfache Geschichte, man muss sich nicht registrieren und es wird sonntags gewählt. Die Wahlbeteiligung ist im europäischen Vergleich noch immer hoch. Wenn etwas abschreckend wirkt, dann wohl eher, wie die Politik sich selbst darstellt.

64, ist Professor für Politik­wissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und stell­vertretender Direktor der Abteilung Demokratie und Demo­kratisierung am WZB Berlin.

Einig sind sich alle Fraktionen, dass der Bundestag verkleinert werden muss, Streit gibt es über das Wie. Warum?

Das hat viel damit zu tun, was das für die einzelnen Parteien und die Individuen bedeutet.

Machtstrategische Gründe.

Ja, man will Macht- und auch einzelne Existenzpositionen nicht verlieren. Die stärkste Gegnerin mit Blick auf die Reduzierung der Anzahl der Direktmandate ist die CSU – weil dort alle über Direktmandate in den Bundestag eingezogen sind.

Die CSU sagt: Direkt gewählte Abgeordnete stehen in besonders enger Verbindung zu den Bürgern. Stimmt das?

Natürlich sind diese davon abhängig, dass die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Wahlkreis sie beim nächsten Mal wieder wählen und deshalb mit ihnen in engerem Kontakt. Aber ob dabei eine bessere Repräsentation rauskommt, ist die Frage. Die Abgeordneten können im Wahlkreis viel versprechen, aber sie können das nicht durchsetzen. In den USA ist das anders, da können die Abgeordneten auf der Bundesebene für ihren Wahlkreis etwas tun, zum Beispiel durch regionalspezifische Gesetze. Und wichtig ist auch: Wenn sich die direkt gewählten Abgeordneten nicht an die Versprechen der Partei halten, verliert man Verbindlichkeit.

Gar nicht im Gespräch sind wirklich radikale Reformen, zum Beispiel ein Wechsel zum reinen Verhältniswahlrecht, was die Erststimme abschaffen würde. So wählt man zum Beispiel in Österreich.

Und in den Niederlanden.

Was spricht dagegen? Das würde doch alles vereinfachen.

Das Problem bei einer radikalen Reform ist, dass niemand weiß, wie die Wähler darauf reagieren würden – ob zum Beispiel das Ergebnis der heutigen Zweitstimme so bleiben würde. Und dieses Risiko will man nicht eingehen. Wichtig ist auch: Wahlrechtsfragen sind einerseits verbunden mit normativen Vorstellungen und der Frage, wie man sich so eine Demokratie vorstellt. Wenn es aber darum geht, etwas zu ändern, sind es Machtfragen. In Osteuropa zum Beispiel gab es viele Wahlrechtsänderungen, bei denen ganz klar war, dass es darum geht, dass die, die an der Macht sind, dort leichter bleiben können. Und die, die bei uns von gewissen Komponenten profitieren, wollen die auch gerne behalten.

Was ist mit dem Grabensystem, bei dem die Hälfte der Abgeordneten direkt gewählt wird, die andere über die Verhältniswahl – voneinander entkoppelt, ohne Verrechnungen wie bei uns. Das wäre nicht ganz so radikal. Ist das weniger demokratisch?

Ich bin ein großer Fan von ­Proportionalwahlsystemen, weil wir in vielfältigen Gesellschaften möglichst vielen eine Stimme im Parlament geben sollten. Und nicht nur der Mehrheit. Aber das ist meine Meinung. Wissenschaftlich lässt sich schwer ­sagen, was demokratischer ist – unser System mit den Ver­rechnungen oder ein Grabensystem. Ein reines Mehrheitswahlsystem wie in den USA oder in England aber lässt meiner Meinung nach zu viele Stimmen ungehört.

Und was sollten die Abgeordneten nun tun?

Ich sehe eine Lösung eigentlich nur in der Vergrößerung der Wahlkreise, also einer Reduktion der Direktmandate.

So wie im Vorschlag von Grünen, Linken und FDP?

Ja, aber da wird es einen Kompromiss geben müssen.

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