Porträt eines Flaschensammlers: Ein Mann weniger Worte

Menschen wie ihn findet man in jeder Stadt. Heinz Spannenberger bessert seine Rente mit Flaschensammeln auf. Aber er will nicht klagen.

Ein Mann sitzt vor einem Getränk in einem Restaurant und zieht an einer Zigarette

Gezeichnet von einem Leben mit wenigen Höhen und vielen Tiefen: Heinz Spannenberger Foto: Emily Piwowar

REUTLINGEN taz | Heinz Spannenberger zieht den rechten Arm aus einem Mülleimer, seine Hand umklammert eine Bierflasche. Alle zwanzig Meter steht so ein Abfallbehälter, Spannenberger lässt keinen aus. Einmal das Gleis entlang und wieder zurück, seine Stammstrecke. Er muss schnell sein, unter Flaschensammlern ist der Bahnhof ein umkämpftes Gebiet.

Mit zwei Dosen und der Flasche kehrt er zurück in die Reutlinger Bahnhofskneipe, pünktlich zum Anpfiff der zweiten Halbzeit. Dunkles Holz, Fliesenboden, Plastikblumen. Auf seinem Platz steht ein Glas Spezi, halb voll, abgestanden. Er verstaut seine Ausbeute in einer Einkaufstüte am Boden. Zwei sind schon gefüllt, jetzt kommt Pfand für 68 Cent dazu.

Mindestens einmal am Tag kommt er in dieses Lokal, von dem er sagt, es ziehe ihn an wie ein Magnet. Weihnachten verbringt er hier, und Silvester, spielt Schach mit einem Bekannten, schaut Fußball: Bundesliga, Champions League, Weltmeisterschaft. Durch das Fenster beobachtet er das Treiben am Bahnsteig. Wirft jemand eine Flasche weg, geht er raus und nimmt sie mit.

Nach achtundsechzig Lebensjahren mit wenigen Höhen und vielen Tiefen hatte Spannenberger sich einen unbeschwerten Ruhestand erträumt, mit Geld, das auch mal für einen Urlaub reicht, ans Meer oder nach Österreich wie früher mit der Familie. „Das war wohl nichts“, sagt er, der seine wenigen Worte nicht zum Jammern verschwendet.

An seiner Stelle ließen sich tausend ähnliche Geschichten erzählen, die davon handeln, im Alter am Rand der Gesellschaft zu stehen. Menschen wie Spannenberger finden sich in jeder Stadt. Rentner, die Flaschen sammeln und am Monatsende um ein paar Euro betteln. Die meisten Passanten schauen weg. Weil niemand gern sieht, was passiert, wenn man den Halt verloren hat. Manchen kosten ihre Stürze so viel Kraft, dass sie in der letzten Lebensphase zu wenig davon übrig haben.

Montagmorgen, Mitte des Monats. Spannenberger verlässt ein Büro der Arbeiterwohlfahrt, in seinen Händen 240 Euro, Taschengeld für die nächsten zwei Wochen. Ein paar Türen weiter betritt er den Raum von Rita Wilde, seiner Betreuerin. Er setzt sich vor ihren Schreibtisch, schlägt die Beine übereinander. Aus der verschlissenen Einkaufstüte, in der er sein Leergut transportiert, kramt er zwei abgegriffene Umschläge hervor. Rentenversicherung und Rundfunkgebühren.

Verhütung der Verschlimmerung

„Post für mich?“, fragt sie. „Sonst noch etwas?“

„Die Putzfrau war schon wieder nicht da“, nuschelt er. Auch hier spricht er nur das Nötigste.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Betreuerin wählt eine Nummer. Er lehnt sich zurück, faltet seine Hände über dem Bauch, unter den langen Fingernägeln hat sich Dreck gesammelt. Aus gutmütigen, tiefblauen Augen mustert er den Raum, die Aktenordner im Regal, die bunten Landschaftsbilder an der Wand. Von der Lockenmähne seiner jungen Jahre ist ein Haarkranz geblieben, die Wangen säumt ein grauer Bart, Falten haben sich eingegraben. Zur Jeans, vielleicht zwei Nummern zu weit, trägt er ein hellblaues Poloshirt, beide Knöpfe offen.

Wilde legt den Hörer auf. „Die Putzfrau kommt Ende der Woche.“

Fällt die Reinigung einmal aus, versinkt Spannenbergers Wohnung im Chaos. Die Kleidung stapelt sich auf Sofa und Bett, der Badezimmerboden bekommt Flecken, auf dem Couchtisch sammeln sich benutzte Gläser, im Aschenbecher Zigarettenstummel. Er neige „zur Verwahrlosung, hier soll Verschlimmerung verhütet werden“, heißt es im letzten Bericht der AWO. Weil er Pflegestufe 1 in Anspruch nimmt, kommen für den Putzdienst Sozialamt und Krankenversicherung auf. „Er ist weiterhin nicht in der Lage, sich um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern“, heißt es in dem Bericht.

Also kümmert sich die AWO um Spannenbergers Post, Versicherungen, Rechnungen. Seine Kleidung stammt aus dem hauseigenen Secondhand-Laden. Weil er sich sein Geld nicht einteilen kann, übernimmt auch das die AWO. Er möchte es so. Seine Rente beträgt 880 Euro im Monat, davon gehen 352 für Miete und Strom ab, 10 für Mietschulden, macht 518 Euro. Davon bekommt er 480 Euro ausbezahlt, die Hälfte jeweils zum 1. und 15. des Monats. Der Rest sind Rücklagen, für Medikamente, Fußpflege oder sein Handy mit den extra großen Tasten.

Alleine am Tisch

Früher hat er sich manchmal eine Karte fürs Reutlinger Fußballstadion geleistet, heute sind 11 Euro für einen Sitzplatz nicht mehr drin. Allein das Rauchen verschlingt fast sein Tagesbudget. Hätte er 2.000 Euro im Monat, wie er sie als Fahrer verdient hat, das wär’s, sagt er. So viel bräuchte er, um in Würde zu altern. Nach einundvierzig Jahren Beitragszahlungen erreicht er nicht einmal die deutsche Durchschnittsrente von 1.076 Euro.

Ein Stockwerk tiefer, in der AWO-Kantine, bestellt Spannenberger Menü 1: gegrilltes Putensteak mit Bandnudeln, dazu eine Cola. An der Kasse weist er sich mit einem gelben Papier und vergilbtem Foto aus. Mit dem Sozialpass, den die Diakonie ausstellt, erhält er Rabatt auf das Essen: 3 statt 6 Euro. Im Speisesaal nickt er einem Gast zu, nimmt aber allein an einem freien Tisch Platz. Während er kaut, schaut er auf sein Tablett oder starrt die Wand an. Man kennt einander, sieht sich jeden Tag und redet kaum. „Eigentlich ist jeder für sich allein“, sagt Spannenberger. Jeder, das sind Hartz-IV-Empfänger und Obdachlose. Er selbst war beides.

Weil er betrunken im Auto erwischt wird, verliert er 2002 zum dritten Mal den Führerschein – und seinen Job. Jahrzehnte ist er Lastwagen gefahren, meist Möbel, lange Zeit auch Getränkekisten. Spannenberger rutscht nach Hartz IV ab. Dann vor fünf Jahren: Er nickt beim Fernsehen auf dem Sofa ein, die Zigarette fällt ihm aus der Hand und auf eine Zeitung am Boden.

Vom Qualm wacht er auf, rettet sich auf die Terrasse, Polizei und Feuerwehr sind schon da, ein Nachbar hat sie gerufen. Als er seine Wohnung Tage später wieder betreten darf, ist alles verkohlt. Möbel, Dokumente, Fotoalben. Nur ein Zinnteller ist unversehrt: eine Fußballtrophäe, in die sein Name eingraviert ist, Meister mit dem FC Urach in der C-Klasse 1972/73. Nach dem Brand übernachtet er sechs Wochen in einer Notunterkunft, bevor ihm die AWO eine neue Wohnung vermittelt, mit ihm Möbel kauft. Der Zinnteller, vom Ruß befreit, thront seitdem auf seinem Wohnzimmerschrank.

Ein Mann hat eine Plastiktüte in der Hand und hält seine Hand in einen Mülleimer

Eine Frage der Würde: Niemals würde Spannenberger wühlen, betteln schon gar nicht Foto: Emily Piwowar

Zum ersten Mal stand er mit sechs Jahren auf dem Fußballplatz, wo er die glücklichsten Momente seiner Kindheit verbrachte. Im „Kleinen Bol“ wächst er auf, dem Problemviertel Reutlingens. Seiner Familie fehlt schon immer das Geld. Der Vater Fensterputzer, die Mutter wegen Depressionen und Herzleiden zu krank zum Arbeiten. In der kleinen Wohnung teilt er sich ein Zimmer mit seiner neun Jahre älteren Halbschwester. Ein Badezimmer gibt es nicht, nur eine Toilette, zum Waschen muss die Spüle in der Küche reichen. Vor der Tür leere Bierflaschen und trostlose Gestalten: Nachbarn, die nicht arbeiten, die ihre Sorgen im Alkohol ertränken.

Als er zwölf ist, stirbt seine Mutter an einer Lungenentzündung. Er wächst bei seinem Vater auf, der zu viel trinkt und sich mehr um neue Liebschaften als um den Jungen kümmert. Meistens flüchtet Heinz auf den Fußballplatz. Eine Gegenwelt, in der Mannschaftsgeist zählt, Tore, Aufstieg, gemeinsame Feiern nach einem Sieg. Er kriegt nicht genug davon. „Fußball war mein Leben“, erzählt Spannenberger, der vierzig Jahre als Stürmer auf dem Platz stand.

Die Drohungen ignoriert

Mit dem Sport schlich sich der Alkohol in sein Leben. Nach jedem Training, jedem Spiel, trank er mit den Kameraden, manchmal zehn, manchmal fünfzehn Bier. Erst Höchstleistung auf dem Platz, danach Saufen im Vereinsheim, mehrmals die Woche, jahrelang. Wer seinem Körper das antut, muss geübt sein. Beim Trinken war Heinz Spannenberger Profi.

Nach der Hauptschule lässt er sich zum Automechaniker ausbilden. Nicht, weil er besonderen Gefallen an Autos findet, er tut es einfach den meisten Jungs in seiner Klasse gleich. Mit sechzehn Jahren fährt er auf einem Moped, einer schwarzen Hercules, durch die Stadt, er verliebt sich. Im Rausch tätowiert er sich den Namen seiner ersten Freundin auf den linken Unterarm: Janne. Die Buchstaben sind mit den Jahren verblasst, Janne ist längst Geschichte.

Christina Fleischmann, 30, ist freie Journalistin und hat Heinz Spannenberger über zwei Wochen immer wieder begleitet.

Mit zweiundzwanzig Jahren lernt er Renate kennen. Sie arbeitet im Büro der Firma, für die er Lastwagen fährt. Sie ziehen zusammen, heiraten. Zwei Jahre später kommt Silke zur Welt. „Die glücklichste Zeit meines Lebens“, sagt er heute. Doch die Familie leidet von Anfang an unter seiner Sucht. Er ist ständig unterwegs, treibt sich mit den Kameraden herum, kommt spät nach Hause. Sie mache das nicht länger mit, warnt Renate. Er ignoriert ihre Drohungen. „Ich habe mich für unwiderstehlich gehalten.“ Nach vier Jahren Ehe zieht sie mit der Tochter aus, reicht die Scheidung ein. Heinz Spannenberger, mit neunundzwanzig geschiedener Vater, zieht zurück in den „Kleinen Bol“.

Der Alkohol habe ihn nicht aggressiv gemacht, sagt er.

Im Suff sei er ihr gegenüber handgreiflich geworden, sagt seine Exfrau.

Er sei mit Tausenden D-Mark Schulden aus der Ehe gegangen, sagt er.

Sie habe alle Schulden auf sich genommen, weil er nicht zahlen konnte, sagt sie.

Gleich wieder verschwunden

Die Geschichte, die mehrere Ver­sio­nen kennt, hat einen gemeinsamen Nenner. „Ich weiß heute, ich war allein daran schuld, dass meine Ehe in die Brüche gegangen ist“, sagt er.

Nach der Scheidung, die Tochter ist knapp zwei Jahre alt, findet seine Ex­frau einen neuen Mann und Silke einen neuen Vater. Ein glückliches Familienleben, bis Spannenberger an der Tür klopft. „Er hielt sich nicht an Termine, aber wenn, dann kam er oft betrunken“, erinnert sich die Exfrau. Sie sagt auch: „Seine Tochter hat er über alles geliebt.“

Der Alkohol hat alles zerstört: die Ehe, die Beziehung zu seiner Tochter, die Gesundheit und manche Erinnerung

Die wenigen Kindheitserinnerungen, die Silke mit ihrem leiblichen Vater verbindet, sind keine guten. „Ich habe mich immer in meinem Zimmer versteckt. Ich hatte einen Vater, ich brauchte nicht noch einen.“ Spannenberger ist für sie der Mann, der immer mal wieder in ihr Leben schneit und gleich wieder verschwindet. Nach Jahren ohne Kontakt lädt sie ihn zur Konfirmation ein, später zur Hochzeit. Er kommt, doch wieder bricht der Kontakt ab. 2017 dann das letzte Treffen. Zu ihrem einundvierzigsten Geburtstag besucht er sie und seine vier Enkel. „Er hat keine Frage gestellt, kaum geredet“, erzählt sie. Wenn sie von ihrem leiblichen Vater spricht, nennt sie ihn nur noch EZ, kurz für Erzeuger.

Sie habe ihm lange eine Chance gegeben, aber nun mit dem Thema abgeschlossen, sagt die Tochter.

Am meisten wünsche er sich mehr Kontakt zu ihr, sagt der Vater.

„Der Alkohol hat alles zerstört.“ Die Ehe, die Beziehung zu seiner Tochter, die Gesundheit. Und er hat die Erinnerung an manche Geschichte getrübt.

Verblasste Erinnerungen

Kramt Spannenberger in der Vergangenheit, findet er selten Details. Mag sein, dass er sie nicht finden will. Eines Tages vor fünfzehn Jahren sei er in seine Kneipe gegangen und habe sich nicht zu den Kameraden am Tresen gesetzt, sondern an einen Tisch, allein. Er orderte eine Cola, die Kellnerin nahm es als Scherz, von der Bar schallte höhnisches Lachen.

Nach fünfunddreißig Jahren an der Flasche sei er morgens aufgewacht mit dem Gedanken: So kann es nicht weitergehen. Kalter Entzug. Er überlegt, was damals der Auslöser war. Doch eine Antwort fällt ihm nicht ein. Sein Körper entwöhnte sich schnell, der Kopf brauchte zwei Jahre. Vielleicht war es das Größte, das er jemals erreicht hat. Er fragt sich oft, ob er darauf stolz sein darf, wo er in seinem Leben doch nichts mit Stolz verbindet.

Als es vor fünfzehn Jahren in der Kneipe eine Cola bestellte, nahm die Kellnerin es als Scherz

Spannenberger zieht seinen Arm aus einem Mülleimer, leert einen Rest Bier auf den Gehweg und legt die Flasche vorsichtig zu den anderen in seine Tüte. Langsam schlurft er weiter, je länger der Weg, desto häufiger die Pausen. Er stoppt an einer Bank am Wegesrand, seinem täglichen Rastplatz, und steckt sich eine Zigarette an, während er Passanten beobachtet. Ein Pärchen schlendert mit Einkaufstüten vorüber, im Café nebenan nippen Gäste an Latte macchiatos. Am Brunnen schleicht ein silberner Sportmercedes vorbei. Spannenberger sitzt wie ein Fremdkörper in dieser Welt. Was ihre Bewohner als Abfall hinterlassen, nimmt er mit in seine.

Drei Jahre ist es her, dass er zum ersten Mal in den Mülleimer fasste. Bei der ersten Flasche stachen ihn noch die Blicke der Passanten in den Rücken. Jede weitere kostete weniger Überwindung, der Griff wurde Routine. Heute erkennt er, wer gleich gläsernes Geld in den Abfall werfen wird, und hält sich bereit. Je nach Art der Flasche variiert das Pfand zwischen 8 und 15 Cent. 2 bis 5 Euro sammelt er pro Tag. An guten Tagen auch mal 9. Am Abend tauscht er an der Supermarktkasse sein Pfandgeld gegen Zigaretten.

Spannenberger nähert sich einer Fanta-Dose, die vor einem Friseursalon am Boden steht. Er hebt sie an und stellt sie sofort wieder ab. Noch fast voll, die gehöre sicher jemandem, stehlen will er nicht. Beim Flaschensammeln zieht er Grenzen: Niemals würde er wühlen und betteln schon gar nicht. Ein bisschen Würde will er sich erhalten.

Vielleicht hat er deshalb seine Tage klar strukturiert. Aufstehen um 6.30 Uhr, um 7 Uhr kommt der Pflegedienst vorbei und stellt ihm seine Medikamente bereit: Metohexal, Nephrotrans, Torasemid. Pillen, die den Blutdruck senken, Gefäße erweitern, Harn treiben. Die meisten schluckt er, um einen dritten Herzinfarkt zu vermeiden. Der erste traf ihn vor zwanzig Jahren, der letzte vor acht. Weil die Beine schmerzen, hinkt er leicht beim Gehen, seine Hände zittern. Wenn Spannenberger hustet, bebt sein Körper. Zweiundfünfzig Jahre Rauchen hinterlassen Spuren. Zwei große Schachteln HB inhaliert er pro Tag, vierundvierzig Zigaretten. Als er noch Lastwagen fuhr, waren es doppelt so viele.

Schwer erträgliche Stille

Jeden Morgen spaziert Spannenberger zwanzig Minuten ins Stadtzentrum und verbringt den Tag zwischen AWO und Bahnhofskneipe, unterwegs sammelt er Flaschen. Hauptsache raus. Obwohl er schon lange allein lebt, erträgt er nur schwer die Stille in seiner Wohnung. Sobald er nach Hause kommt, schaltet er den Fernseher ein. Wenn er sich schlafen legt, lässt er die Stimmen weiterreden.

Manchmal ruft er seine Halbschwester in Düsseldorf an. Die Gespräche dauern keine drei Minuten.

„Wie geht’s dir?“

„Mir geht’s gut.“

„Also dann.“

Einmal im Jahr kommt sie zu Besuch nach Reutlingen. Jahrelang herrschte Funkstille, der Alkohol habe das Verhältnis belastet, erzählt sie. „Heinz ist ein seelenguter Mensch, aber er ist labil. Er hatte zu Hause kein Vorbild.“

Gemeinsam trocken

Zu gern würde Spannenberger noch einmal heiraten. Er hält Ausschau nach der Richtigen, doch es scheitert schon beim Ansprechen, er ist zu schüchtern. Es gab zwar einige Frauen in seinem Leben, doch nichts Beständiges, die längste Beziehung hielt fünf Jahre.

Seitdem die letzte Liebschaft in die Brüche ging, heißt seine Familie Al­fred, Roland und Klaus. Mit ihnen sitzt er stundenlang zusammen beim Binokel, einem schwäbischen Kartenspiel, das man entweder schnell begreift oder nie versteht. Mehrmals die Woche trifft sich die Männerrunde im „Sozialen Wohnzimmer“, einer Mischung aus Café und Rumpelkammer unweit des Stadtzentrums.

An der giftgrünen Wand lehnt ein Porträt, das Hemingway zeigt, von der Decke hängen goldene Girlanden, hinter einer Glastür verstauben Gläser im Wohnzimmerschrank. Spannenberger stellt die Tüte mit seinen Flaschen am Eingang ab. Alfred Stähle, ein kleiner Mann mit Schnauzbart und Lachfalten, springt von seinem Stuhl auf, schüttelt ihm die Hand. „Eine Cola, wie immer?“

Früher haben die beiden nach dem Fußballtraining gemeinsam gezecht. Heute sind sie gemeinsam trocken. Wenn man den Entzug hinter sich hat, lässt sich leichter über die Exzesse von damals reden. Die Worte, die sich Spannenberger spart, gibt Stähle großzügig aus. „Am Ende ging es nicht mehr um Fußball, sondern nur noch ums Saufen“, sagt er.

Stähle ist Betreiber des „Sozialen Wohnzimmers“ und ehrenamtlicher Suchtberater. Dass Heinz ohne Therapie gegen den Alkohol gesiegt hat: „Respekt“, sagt er. „Dafür braucht man einen starken Willen.“ Spannenberger lächelt mit gesenktem Blick.

Später, auf dem Weg zurück in die Bahnhofskneipe, die ihn anzieht wie ein Magnet, sagt er: „Wenn’s die Leute so sagen, wird’s auch stimmen.“ Vielleicht ist da doch so etwas wie Stolz in seinen Worten zu hören.

Die Lage kontrollieren

Am Tresen holt er ein Schachbrett und setzt sich zu einem Freund, An­dreas heißt er. Sobald die zweiunddreißig Figuren stehen, bekommt Spannenberger den Tunnelblick, sein Kopf spielt die nächsten vier möglichen Züge durch. Mit seinen beiden Pferden springt er nach vorn, spielt dann die Läufer frei, um den eigenen König zu sichern. Andreas seufzt, wiegt den Kopf hin und her. Während Spannenberger in Ruhe an seiner Zigarette zieht, beobachtet er jede Bewegung seines Gegners.

Das Spiel, das ohne Worte auskommt, ist Spannenbergers neuer Sport nach dem Fußball. Maximale Konzentration statt maximaler Rausch. Für seinen Schachclub tritt er regelmäßig bei Turnieren an. Zwei Tage dauerte seine längste Partie. Die Spielzüge hat ihm sein Vater beigebracht. Was er im Leben nicht geschafft hat, beherrscht Spannenberger bei diesem Spiel: den nächsten Schritt überlegen, Risiken abwägen, die Lage kontrollieren.

Er zieht seine Dame diagonal über das Feld. Ein gewagtes Manöver. Er weiß, er wird sie jetzt verlieren. Aber er weiß auch, er kann immer noch gewinnen.

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