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Positionspapier zum Grünen-OstkongressMehr Rotkäppchen und Kathi wagen

Die Grünen sprechen auf ihrem Ostkongress darüber, was die Partei aus verschiedenen Perspektiven lernen kann. Vier Frauen machen dazu einen Vorschlag.

Fordert ostdeutsche Identifikationsfiguren: Bundestagsabgeordnete Piechotta (Grüne) ist eine von vier Autorinnen des Ostpapiers Foto: Katharina Kausche/dpa

Wittenberg taz | Eigentlich sei das mit dem Osten und den Grünen gar nicht so kompliziert. Wenn sie alte Fehler vermeidet und die Potenziale in Ostdeutschland nutzt, könnte die Partei davon bundesweit profitieren. So skizziert es zumindest das „Ostpapier“, das vier grüne Politikerinnen am Samstagvormittag veröffentlicht haben. Es steht im Kontext des ersten Ostkongresses der Bündnisgrünen in Lutherstadt Wittenberg.

An diesem Wochenende diskutieren dort in Sachsen-Anhalt rund 500 Parteimitglieder aus der ganzen Bundesrepublik. Wie stehen die Grünen im Osten da? Wie können sie mehr Wäh­le­r:in­nen von ihrer Politik überzeugen? Zu dieser Debatte solle das Papier „konkret umsetzbare, ergänzende Punkte mit offenem Ausgang einspeisen“, schreiben die Autorinnen.

Alle vier stammen aus unterschiedlichen Ost-Bundesländern, kennen sich aber schon lange. Madeleine Henfling, frühere Landtagsabgeordnete aus Thüringen, und Luna Möbius, Mitglied des Ostbeirats aus Sachsen-Anhalt, gehören eher zum linken Parteiflügel. Paula Piechotta, Bundestagsabgeordnete aus Leipzig, und Julia Schneider, Bundestagsabgeordnete aus Ostberlin, sind eher Realos.

Zusammen argumentieren sie, es sei noch gar nicht lang her, dass die Grünen führende Kraft linker Parteien waren. Noch vor wenigen Jahren, 2019 und 2021, hätten die Grünen bei Wahlen in Ostdeutschland Rekordergebnisse eingefahren und die Politik in mehreren Bundesländern beeinflusst. „Da müssen wir wieder hin“, setzen die Autorinnen des Papiers die Zielmarke.

Neue Strategie gegen die AfD

Allerdings: In den fünf Bundesländern auf dem Gebiet, das früher mal DDR war und heute oft vereinfacht als Ostdeutschland bezeichnet wird, haben die Bündnisgrünen schon seit der Wiedervereinigung besonders niedrige Zustimmungswerte. Bei den Landtagswahlen landen sie immer deutlich unter dem Bundestrend. Sie gelten als West-Partei. Mancherorts kämpfen sie nicht um Stimmen, sondern gegen blanken Hass und Drohungen.

Obwohl die Länder viel unterscheidet, hat das zumindest teilweise gemeinsame Ursachen. Die Wäh­le­r:in­nen der Grünen, städtisch, akademisch, finanziell gut aufgestellt, sind im ländlich geprägten Ostdeutschland seltener als im Westen. In Leipzig, Potsdam oder Berlin schlagen die Wahlergebnisse mal nach oben aus, ansonsten stößt das grüne Politikangebot zwischen Rügen und dem Erzgebirge kaum auf Wohlwollen.

Um Erfolg zu haben, müsse die Partei auch Menschen außerhalb ihrer Stamm­wäh­le­r:in­nen­schaft ansprechen, fordern die Autorinnen des vierseitigen Ostpapiers. Das gehe zum Beispiel, indem die Grünen neue Identifikationsfiguren förderten: ostdeutsche Akteure, Arbeiterkinder und Nicht-Akademiker:innen. „Wenn wir breitere Bevölkerungsgruppen erreichen wollen, müssen wir zeigen, dass diese Menschen bei uns auch innerparteilich etwas zu sagen haben.“ Nur so könne glaubhaft vermittelt werden, dass die Grünen für deren Interessen eintreten.

Außerdem brauche die Partei eine „eigenständige sozialpolitische Handschrift“, um mehr Menschen von sich zu überzeugen: Pflege, Gesundheit, Rente, Arbeitsmarkt. „Menschen in Ostdeutschland profitieren überproportional von funktionierenden Sozialversicherungen“, heißt es in dem Papier.

Vor Ort in den ostdeutschen Bundesländern sei wichtig, spezifische Themen in den Fokus zu rücken. Beispielhaft führen die Autorinnen die ungleiche Verteilung von Vermögen, die Dürregefahr in Ostdeutschland oder die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern Polen und Tschechien auf. Oder die Belange von Traditionsfirmen wie der Sektkellerei Rotkäppchen oder des Backmischungsherstellers Kathi, die beide in Sachsen-Anhalt sitzen. „Ost-Bündnisgrüne brauchen mehr Freiheit, um regionale Interessen nachhaltiger vertreten zu können“.

Zusätzlich plädieren die Autorinnen für eine neue Strategie gegen die AfD. Reine Brandmauer und dann ignorieren? Besser sei, die inneren Widersprüche im rechtsextremen Lager herauszuarbeiten, „die Scheinheiligkeit rechtsextremer Akteure stärker zu thematisieren, die Finanzierungsströme und die Verbreitung von Falschinformationen sehr viel konsequenter zu bekämpfen als bislang“. Noch wichtiger sei aber „eine tragfähige sozialökonomische Gegenerzählung, die nicht technokratisch belehrt, sondern Menschen emotional erreicht“.

Banaszak auf Ost-Tour

Aktuell können die Grünen aber nur von Rekord-Wahlergebnissen träumen. Bei der sächsischen Landtagswahl 2024 schafften sie es gerade so mit 5,1 Prozent der Stimmen ins Parlament. In Brandenburg und Thüringen scheiterten sie hingegen an der Fünf-Prozent-Hürde. In allen drei Ländern hatte die Partei zuvor mitregiert.

In den vergangenen Monaten versuchte die Parteispitze gegen diesen Trend erste Maßnahmen zu ergreifen. Im Juli setzte der Grünen-Vorstand einen Beirat mit 15 Mitgliedern ein, der ihn bei ostdeutschen Fragen unterstützen sollte. Nicht alle Mitglieder des Beirats sind auch Mitglieder der Grünen, zu den externen Be­ra­te­r:in­nen gehört etwa auch der bekannte Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.

Parteichef Felix Banaszak inszeniert zudem sein Interesse an ostdeutschen Bedürfnissen. Neben dem Parteibüro in seiner Heimatstadt Duisburg eröffnete er dieses Jahr auch eins in Brandenburg. Den Sommer über tourte Banaszak durch die ostdeutschen Länder, besuchte etwa zivilgesellschaftliche Akteure in Sachsen oder Ar­bei­te­r:in­nen des Chemieparks Leuna in Sachsen-Anhalt.

Im hundert Kilometer davon entfernten Wittenberg tagt nun also der erste Ostkongress der Partei, ebenfalls in Sachsen-Anhalt. Dort steht die Landtagswahl nächstes Jahr an. Letzte Woche bekamen die Grünen in einer Umfrage 3 Prozent der Stimmen.

Eine Stippvisite der Parteispitze sei eben nicht genug, um in Ostdeutschland gewählt zu werden, heißt es im „Ostpapier“. Die Bündnisgrünen bräuchten Veränderungen auf bundespolitischer Ebene. Was dort passiere, wirke sich direkt auf Ostdeutschland aus, glauben die Autorinnen. „Umgekehrt kann fast kein Format vor Ort jemals kompensieren, welche verheerenden Folgen eine bundespolitische Verengung auf die Kernklientel in den ostdeutschen Bundesländern einschließlich Berlin nach sich zieht.“

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