Präsidentschaftswahl in Tunesien: Erst Herz, dann Kopf

Nach einem bunten Wahlkampf: Die Tunesier stimmen erstmals in der Geschichte des Landes direkt über ihren Präsidenten ab.

Anhängerin mit Kandidaten-Sticker von Beji Caid Essebsi auf der Wange Bild: dpa

TUNIS taz | „Tunesien, die erste Demokratie der arabischen Welt!“, hat jemand auf einen Bauzaun auf der Avenue Bourguiba gesprüht. Hier hat der Arabische Frühling einst seinen ersten Erfolg gefeiert – mit dem Sturz des Diktators am 14. Januar 2011. Und nun herrscht seit Wochen Dauerwahlkampf: Am kommenden Sonntag gehen die Tunesier in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl an die Urnen, nachdem sie Ende Oktober schon – mit der neuen Verfassung – ihr Parlament bestimmt haben. Zum ersten Mal wird ein Staatschef in Tunesien direkt vom Volk gewählt.

Übergroße Porträts der 27 PräsidentschaftsbewerberInnen bestimmen das Straßenbild, doch in der zweiten Runde Ende Dezember dürfte sich der Kampf wohl zwischen zwei politischen Schwergewichten entscheiden – zwischen Amtsinhaber Moncef Marzouki, der im Oktober 2011 mit den Stimmen der islamistischen Ennahda und zweier kleiner säkularer Parteien eingesetzt wurde, und Béji Caïd Essebsi. Der 87-jährige Herausforderer ist ein Veteran aus den Tagen der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich; in einer der drei Übergangsregierungen seit 2011 diente er als Ministerpräsident.

Es ist ein Wahlkampf mit allem, was dazugehört: Die Bürger informieren sich in Funk, Fernsehen, Presse, im Internet, in den sozialen Netzwerken. Oder sie gehen zu einer der zahlreichen Wahlkampfveranstaltungen. Überall in den großen Sälen des Landes geben sich die Kandidaten die Klinke in die Hand.

In der Coupule, der Sporthalle im Norden der Hauptstadt, tritt am vergangenen Samstag Altpolitiker Essebsi vor die Wähler. Tausende schwenken begeistert die roten Fähnchen mit Halbmond und Stern und dem Gesicht ihres Kandidaten.

Die Vorgeschichte: 14.1.2011: Nach Massenprotesten mit über 200 Toten flieht Präsident Zine El Abidine Ben Ali ins saudische Exil. 23.10.2011: Die islamistische Partei Ennahda gewinnt die Wahl zum Übergangsparlament. 13.12.2011: Moncef Marzouki wird als erster demokratisch gewählter Präsident vereidigt. 2013: Morde an Oppositionspolitikern lösen eine innenpolitische Krise aus. Im Rahmen eines Nationalen Dialogs wird im Dezember ein Expertenkabinett eingesetzt. 26.10.2014: Parlamentswahl nach Verabschiedung einer neuen Verfassung. Die säkulare Partei Nidaa Tounes gewinnt, ist aber auf Koalitionspartner angewiesen.

Wer kandidiert: Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag, dem 23.11., treten 27 KandidatInnen an. Amtsinhaber Moncef Marzouki, 1945 geboren, hat sich auch einen Namen als Menschenrechtsaktivist gemacht. Herausforderer Beji Caid Essebsi, Jahrgang 1926, ist zugleich Chef der bei der Parlamentswahl siegreichen Partei Nidaa Tounes. Als einzige Frau kandidiert die 1959 geborene Kalthoum Kannou. Die Richterin möchte die erste „tunesische, arabische und muslimische“ Präsidentin werden. (dpa, taz)

Nur keine Islamisten

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Auf zwei Großleinwänden erinnert ein Video an die Wirren der Übergangsjahre: Die Bilder von Demonstrationen und brutalen Polizeiübergriffen sollen die Jugend ansprechen, die einst den Diktator Ben Ali vertrieb. Aufnahmen von den wenigen Terroranschlägen und von Aufmärschen radikaler Salafisten unterstreichen die Sorge vieler vor einer unsicheren Zukunft.

Die Botschaft ist klar: Der derzeitige Amtsinhaber Marzouki hat versagt. Nötig ist jetzt ein Wechsel, ein neuer Mann an der Staatsspitze, einer mit Erfahrung – eben so einer wie Essebsi, einst Innen- und später auch Außenminister unter dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit 1956, Habib Bourguiba.

Dann ist zu sehen, wie ihr „Bajbouj“ – so der Kosename Essebsis – durch die langen Gänge der Sporthalle kommt. Sein Schritt ist sicher, sein Blick fest. Er ist umgeben von Vertrauten aus den Reihen seiner Partei Nidaa Tounes (Ruf Tunesiens), die im Oktober stärkste Fraktion im neuen Parlament wurde. Wie ein in die Jahre geratener Rocky betritt er das Pult. Die Nationalhymne erklingt; alle singen mit. Essebsi hebt die Arme und beginnt „im Namen Gottes, des Allmächtigen und Barmherzigen“ seine Rede.

Asma Chijdi ist eine von denen, die ihm gebannt zuhören. „Noch schwanke ich“, sagt die 21-jährige Medizinstudentin, obwohl sie bei der Parlamentswahl im Oktober bereits für Nidaa Tounes stimmte. „Es ist eine säkulare Partei. Ich habe sie gewählt, damit die Islamisten von Ennahda nicht erneut regieren“, erklärt sie. Nidaa Tounes wurde vor zwei Jahren von Veteranen, Gewerkschaftern, Liberalen, aber auch ehemaligen Mitgliedern von Ben Alis Einheitspartei RCD gegründet, um den Islamisten etwas entgegenzusetzen.

„Sicherheit, Stabilität, Aufschwung“

Von einem Präsidenten erwartet Chijdi nach drei schwierigen postrevolutionären Jahren „Sicherheit, Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung“. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von weit über 30 Prozent ein verständlicher Wunsch. Chijdi hat neben Essebsi zwei weitere Bewerber auf ihrer Liste der Kandidaten: den bekannten Oppositionellen und Kommunisten Hamma Hammami, der für das Linksbündnis „Volksfront“ ins Rennen geht, und die aus den Jahren der Diktatur bekannte, mutige Richterin Kalthoum Kennou. „Mit Essebsis Programm bin ich einverstanden. Aber sein Alter …“, erklärt Chijdi, warum sie sich, wie viele junge Tunesier, mit ihm schwertut.

Ghasi Ghezal ist da weniger zögerlich: Der 45-jährige Besitzer eines kleine Cafés im Urlaubsort Sousse fährt auf alle Veranstaltungen Essebsis. Natürlich war er auch in Monastir, am Mausoleum des Präsidenten Bourguiba, wo „Bajbouj“ seinen Wahlkampf im Schatten des tunesischen Übervaters eröffnete.

„Wir brauchen jemand, der die Wirtschaft ankurbelt, und wir brauchen eine starke Hand“, sagt der Cafébesitzer. Demokratie sei gut, aber es brauche auch Ordnung: Unter dem alten Regime habe es „keine Kriminalität gegeben“. Auf die Vergangenheit des Kandidaten angesprochen, der auch unter Ben Ali Anfang der 1990er Jahre als Präsident des völlig gegängelten Parlaments diente, winkt er nur ab. Essebsi sei „ein ehrlicher Mensch“, sagt Ghezal.

Der Alte, oben auf der Bühne, wird allen Erwartungen gerecht. Essebsi redet mal väterlich, mal kämpferisch, mal von einem „zivilen Staat“, mal von „muslimischen Traditionen“. Er wirbt für „eine Regierung auf breiter Basis“, ohne ein Bündnis mit den Islamisten von Ennahda auszuschließen. Diese haben auf einen eigenen Kandidaten verzichtet und der Basis Wahlfreiheit gegeben. Es ist ein wichtiges Stimmenpotenzial, das er nicht komplett seinem Gegner Marzouki überlassen will.

Gleichzeitig beruft sich Essebsi aber auch auf das moderne Tunesien, das die Frauenrechte respektiert wie sonst kein arabisches Land. Und er verspricht selbstverständlich: Sicherheit, Arbeit, Aufschwung.

Nur nicht das alte Regime

Immer wieder kritisiert er den derzeitigen Präsidenten wegen dessen vermeintlicher Nähe zu den Islamisten, ja gar zu den radikalen Salafisten. „Ich als Präsident werde die Liga zum Schutz der Revolution nicht im Palast empfangen“, sagt Essebsi und erinnert damit an eine umstrittene Amtshandlung Marzoukis.

Die Liga speist sich hauptsächlich aus radikalen Islamisten. Sie hat sich dem „Kampf gegen alle Vertreter des alten Regimes“ verschrieben und macht auch vor gewalttätigen Übergriffen gegen Vertreter und Büros von Nidaa Tounes, aber auch gegen Linke und die Gewerkschaft UGTT nicht halt. Mittlerweile ist sie verboten. Einige ehemalige Ligaführer haben Marzouki im Internet Unterstützung zugesichert. Essebsi nutzt dies in all seinen Auftritten und mobilisiert damit erfolgreich im säkularen Lager.

Rund 270 Kilometer entfernt, in Tunesiens zweitgrößter Stadt Sfax, erntet Marzouki derweil Beifall bei seinen Anhängern im Saal, während draußen Tausende gegen ihn protestieren. Der 69-jährige einstige Menschenrechtler und säkulare Exilpolitiker braucht die Stimmen Ennahdas, mit der er bisher in Koalition regierte.

Seine eigene Partei, der Kongress für die Republik (CPR), hat im Oktober 25 der 29 Parlamentssitze verloren. Der Präsident warnt vor „der Rückkehr zum alten Regime“ und meint damit seinen Herausforderer Essebsi, dessen Partei er gern einmal mit dem Wort „Taghout“ belegt, einer Vokabel, die von radikalen Islamisten für „Erzfeinde“ genutzt wird, die es zu vernichten gilt.

Medizinstudentin Chijdi kann sich immer noch nicht entscheiden, welchen ihrer drei Favoriten sie am kommenden Sonntag wählen wird. „Die erste Runde mit dem Herzen und die zweite mit dem Kopf“, sagt sie. Egal was sie jetzt tut, für Dezember kennt sie keinen Zweifel: „Marzouki? Niemals!“

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