Printmedien gegen Web 2.0: Die Arroganz der Papierverfechter

Mühelos kann heute jeder seine Meinung ins Netz posaunen. Davon fühlt sich mancher Profi auf den Schlips getreten - doch das spricht für einen merkwürdigen Minderwertigkeitskomplex.

Zeitungsmacher fürchten inzwischen um ihre Pfründe Bild: dpa

Vielleicht ist die härteste Erkenntnis für Journalisten die, für wen man da arbeitet. Dass das Publikum zu einem großen Teil aus Menschen besteht, die ahnungslos sind, die Brisanz eines Artikels nicht begreifen, seinen Kern missverstehen. Die Ironie nicht erkennen und rhetorische Fragen beantworten. Die voreingenommen, ungerecht und unreflektiert sind, meistens verbohrt, manchmal fanatisch, bestenfalls desinteressiert.

Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Aber bislang hatte man die Möglichkeit, die Leserbriefschreiber, die mit ihrer Ignoranz und Penetranz das schöne Bild von den aufgeklärten, kultivierten Rezipienten der eigenen Werke störten, für eine kleine, untypische Minderheit von Berufsnörglern zu halten. Und wie blöd sie waren, blieb vielen verborgen, denn auf die Leserbriefseite kamen nur handverlesene Beiträge.

Die Illusion ist dahin. Jeder Leser, Zuschauer und Nutzer kann seine Meinung heute mühelos und fast ungefiltert ins Netz schreiben, und das Ergebnis ist keine gepflegte Podiumsdiskussion, bei der man am Ende noch kurz das Mikrofon ins Publikum gibt, sondern eher einer Auseinandersetzung in einer Kneipe, in der viele Stunden und Promille nach einem Fußballspiel Anhänger verschiedener Mannschaften aufeinandertreffen und die Hälfte, die nicht damit beschäftigt ist, sich zu übergeben, mit möglichst überzeugender Lautstärke versucht, den anderen gleichzeitig die Blindheit des Schiedsrichters in der 57. Minute und die fiskalischen Probleme bei der Umsetzung der bedarfsorientierten Grundsicherung zu erläutern.

Das ist selten schön mitanzusehen, und irgendwie kann man nachzuvollziehen, dass vor allem Journalisten sich wünschen, dieses Krakeele fände wieder irgendwo statt, wo es niemand mitbekommt, insbesondere nicht man selbst. Da mischt sich die Enttäuschung über die Unwürdigkeit des Publikums mit der über den Verlust des Monopols zu publizieren.

Aber ist die Ursache des Problems wirklich die Tatsache, dass im Zeitalter des Web 2.0 oder Mitmachnetz jeder, auch ohne Ausbildung, Fähigkeiten, Fachkenntnisse oder professionelle Standards publizieren darf? Die publizistischen Hürden im Printbereich liegen wesentlich höher, aber wer zum ersten Mal in einen Bahnhofkiosk kommt, könnte schon eine Weile suchen müssen, bis er ahnt, dass es auch Zeitschriften gibt, die etwas anderes veröffentlichen als Fotos von sekundären Geschlechtsorganen, Märchen über Prominente und gesellschaftlich irrelevante Fachinformationen für unfassbar kleine Zielgruppen mit gemeinsamen Hobbys. Und es ist das Fernsehen, das Medium mit den immer noch höchsten Mitmachbarrieren, das aus dem Hütchenspiel in der Fußgängerzone ein internationales Millionengeschäft für Sender wie 9Live gemacht hat.

Warum gerät das Buch eigentlich nicht in Verruf durch die ungezählten Schundromane, die jedes Jahr in dieser Form publiziert werden, die vielen unlesbaren Traktate und all die Werke, die nur geschrieben werden, um den Autor selbst glücklich zu machen, und nie mehr als eine Handvoll Leser erreichen werden? Beim Internet argumentieren Kritiker genau so. Die Süddeutsche Zeitung verbindet Ahnungslosigkeit, Lernresistenz und Penetranz, um sich zum Sprachrohr der Internetphobie zu machen, die genau diese Unarten beklagt. Bernd Graff, der Kulturchef des Online-Ablegers der Zeitung, leiht sich das höchstverfügbare Ross, und klettert aus dem Sumpf, in dem er täglich anklickbaren Müll produziert, kurz hinauf, um von ganz oben einen inhärenten Qualitätsgegensatz zwischen Tageszeitung und Internet zu behaupten.

Warum der zwingend sein soll, erklärt er nicht, außer durch den Satz: "Die etablierten Medien verfügen über rigide Aufnahmeverfahren und praktizieren bei journalistischem Fehlverhalten im besten Fall Sanktionierungen." Jeder Idiot darf Journalist werden, das garantiert das Grundgesetz, und viele werden es auch tatsächlich, das kann man Tag für Tag in den "etablierten" Medien nachlesen, angucken, anhören. Und, richtig: Im besten Fall wird Fehlverhalten sanktioniert. Im Regelfall bleiben Lügen, Fehler, Verdrehungen, Versäumnisse und Manipulationen - selbstverständlich - unkorrigiert und ungesühnt.

Aber aus den diversen Angriffen auf das Web 2.0 in diesen Tagen spricht nicht nur Arroganz, sondern auch ein merkwürdiger Minderwertigkeitskomplex: die Annahme, dass sich fundierte, kluge, wichtige Gedanken nicht mehr durchsetzen gegen all die Beliebigkeiten und Dummheiten, die nun von jedem verbreitet und diskutiert werden können. Dass das Publikum Relevanz und Zuverlässigkeit oft nicht goutiert, ist keine Frage - aber auch kein internetspezifisches Phänomen: Bild verkauft täglich fast zehn Mal so viele Exemplare wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, und die Tagesthemen werden sich immer schwer tun gegen Explosiv. Aber nichts spricht dafür, dass die Menschen im Internet neben dem ganzen Gequatsche nicht auch Relevanz suchen und finden - und Autoritäten, denen sie zuhören und vertrauen. Menschen, die nachvollziehbar argumentieren und sich auf einen Dialog einlassen, die Fachkenntnis mitbringen und das Talent, komplizierte Zusammenhänge zu erklären. Das können ausgebildete Journalisten sein, die von klassischen Medien für ihre Arbeit bezahlt werden, aber auch ganz andere.

Es ist ein Missverständnis, anzunehmen, dass all die Leute, die nun als Mini-Publizisten haltlose Interpretationen des Weltgeschehens in ihre Webcams sprechen, damit gleich die Meinungsführerschaft beanspruchen. Was sie beanspruchen, ist Teilhabe: eine Stimme von vielen sein zu dürfen. Und das ist nichts weniger als das, was als Freiheit jedes einzelnen, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten ein zentraler Wert unseres Gemeinwesens ist, bislang aber mangels technischer Möglichkeiten oft nur Theorie blieb.

Das bedeutet nicht, dass die Demokratisierung des Publizierens nicht gravierende Probleme mit sich brächte - es ist zweifellos leichter geworden, andere zu verleumden und gezielt oder fahrlässig zu desinformieren, und der tägliche Kampf gegen die Kakophonie des Wahnsinns, die alles zu übertönen droht, ist nervenaufreibend. Aber es hilft nicht wegzusehen, im Gegenteil: Man muss hinsehen und findet an so vielen Stellen in Diskussionen und Blogs, bei You Tube und in der Wikipedia Unmengen großartiger Belege dafür, dass die Massen klug sein können, und dass es in der Masse einzelne Stimmen gibt, die es verdienen, laut und klar von vielen gehört zu werden, und dazu bislang nie eine Chance gehabt hätten.

Manchmal scheint es, als sei den Journalisten, die gegen dieses Mitmachnetz anschreiben, schon die Motivation all dieser neuen Konkurrenten um Aufmerksamkeit suspekt: einfach zu glauben, etwas zu sagen zu haben, und es nicht für Geld, Auflage, Karriere oder den Verkauf von Werbeplätzen zu tun. Und wenn SZ-Mann Graff über die Amateurpublizisten schreibt: "Sie zetteln Debattenquickies an, pöbeln nach Gutsherrenart und rauschen dann zeternd weiter. Sie erschaffen wenig und machen vieles runter" - dann ist es schwer, in dieser Formulierung nicht eine exakte Beschreibung dessen zu lesen, was den ach-so-professionellen Journalismus heute weitgehend ausmacht.

Das große Versprechen der Demokratisierung des Publizierens ist nicht die Herrschaft der ahnungslosen Masse. Es ist die Chance, die Vorteile der professionalisierten Wissensproduktion mit der Intelligenz der Masse zu kombinieren. Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit, das Wir gegen Die auszuspielen oder sich für eines von beiden entscheiden zu müssen. Google arbeitet an einem Wissensprojekt "Knol", das der genaue Gegenentwurf zum Wikipedia-Prinzip ist: Einzelne Experten bürgen für die Qualität der jeweiligen Lexikoneinträge mit ihrem Namen, und alles spricht dafür, dass "Knol" und Wikipedia sich gegenseitig befruchten werden. Der Spiegel bringt im Netz sein Archiv mit den Bertelsmann-Lexika und dem Wikipedia-Wissen zusammen. Und auf BILDblog leben wir schon seit über drei Jahren davon, auf den unbegrenzten Wissensschatz unserer Leser zurückgreifen zu können, ohne darauf verzichten zu wollen, deren Hinweise auf Lügen, Dummheiten und Zumutungen der Bild-Profis mit unserem Handwerkszeug als Journalisten zu überprüfen, auszuwählen und aufzupolieren.

Und anders als viele Negativerscheinungen ist diese Form der Zusammenarbeit tatsächlich eine Eigenart des Mediums Internet.

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