Probewohnen in Eisenhüttenstadt: Stadt sucht Nachwuchs
Mehr als 2000 Bewerbungen auf zwei Wohnungen: Das Probewohnen in Eisenhüttenstadt ist sehr begehrt. Selten war die Aktion so erfolgreich.
Nur, dass genau das dort nun trotzdem passiert ist. Aus ganz Deutschland haben sich Anfang des Sommers mehr als 2.000 Menschen auf zwei Wohnungen in der ehemaligen DDR-Planstadt beworben. Die Stadt hatte für September zum Probewohnen geladen. Zwei Wochen, in einer vollmöblierten und -ausgestatteten Wohnung, kostenlos – um sich so ein Bild von Eisenhüttenstadt machen zu können.
Der Ansatz ist nicht neu, viele schrumpfende Städte experimentieren mit diesem oder ähnlichen Formaten. Sowohl in den sogenannten strukturschwachen Gebieten in ostdeutschen Bundesländern als auch in den altindustriellen Zentren im Westen ist das Bedürfnis groß, der schrumpfenden und alternden Einwohner:innenschaft, den leeren Innenstädten und der sinkenden Wirtschaftsleistung entgegenzuwirken.
Guben, ebenfalls im Brandenburgischen, hat im letzten Jahr ein Probewohnen angeboten. Im hessischen Homberg konnten im Jahr 2022 Städter für einen Sommer das Landleben ausprobieren.
Kleinstadt an der Oder
Selten war die Aktion aber so erfolgreich wie nun in Eisenhüttenstadt. Zur Vorstellung der beiden ausgewählten Probewohner:innen war der Presseandrang groß, alle, einschließlich der taz, wollten wissen: Was hat es mit dieser Kleinstadt an der Oder auf sich?
Fragt man ihre Bewohner:innen, sagen die, es sei die Ruhe und die Erreichbarkeit. Helga, 72, lebt seit 52 Jahren in Eisenhüttenstadt. Sie mag, dass sie Arzt, Apotheke, Friseur und Natur gleich in der Nähe hat. Von dem Interesse am Probewohnen hat sie auch schon gehört, gut findet sie das.
„Blöd, dass ich mein zweites Fahrrad verliehen habe“, sagt sie noch, am liebsten will sie für die Reporterin spontan gleich eine Fahrradtour veranstalten, um die Gegend herzuzeigen. Mohamed, Anfang 40, lebt seit einem Jahr hier und mag, dass es schön ist, und sicher.
Julia Basan leitet das Pilotprojekt Probewohnen in Eisenhüttenstadt und war komplett überwältigt von der großen Anzahl der Interessierten. Viele Bewerbungen seien aus Berlin und München eingegangen, erzählt sie. Die günstigen Mieten sind wohl auch ein Grund dafür; sechs Euro kalt kostet der Quadratmeter hier. „Viele der Bewerbungen haben auch den Platz hier thematisiert und immer wieder wurde die Ostmoderne erwähnt“, so Basan.
Unter Denkmalschutz
Eisenhüttenstadt, früher Stalinstadt, ist städtebaulich einzigartig. Als Planstadt nahe des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) wurde es 1950 als sozialistische Musterstadt gebaut. Heute steht die Innenstadt mit ihren historischen Wohnstätten und weiten Innenhöfen unter Denkmalschutz. Außenrum liegen Gewerbegebiete und viel Natur, weiter östlich der ursprüngliche Stadtkern von Fürstenberg, direkt an der Oder.
Ein Probewohner ist Jonas Brander. Er ist Dokumentarfilmer und recherchiert für einen Film in und über Eisenhüttenstadt. Früher sei die Stadt die Zukunft, die Utopie gewesen, sagt Brander, während er auf einem Sofa in einer der Gästewohnungen sitzt.
„Wenn man heute mit Leuten spricht, gibt es aber eine große Zukunftsangst“, erzählt er. Eisenhüttenstätter:innen auf Probe, wie er selbst, würden da neue Energie geben. „Plötzlich werde jetzt ich gefragt: Bist du die Zukunft?“
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