Probleme mit Prothesen: Lockerung, Auskugeln, Bruch

Die kleine Prothese an der Halswirbelsäule war schon eingesetzt, da wurde sie als hochgefährlich eingestuft. Jetzt ist Karin Petermann gelähmt.

Immer mehr Deutsche brauchen ein Prothese: Aufnahme eines neuen Hüftgelenks. Bild: dpa

BERLIN taz | Nicht einen Millimeter kann Karin Petermann* ihre Halswirbelsäule mehr krümmen. Alles ist steif. Arbeitsunfähig ist sie deswegen schon lange, am Computer oder am Schreibtisch zu sitzen ist ihr unmöglich. Aber auch zu Hause kommt sie kaum mehr allein zurecht: Staub saugen? Ohne fremde Hilfe duschen? Auf dem Sofa sitzen und Kuchen essen? Wie denn?

Schlucken kann sie bestenfalls noch Brei.

Alles ist eine Qual, verursacht durch eine winzige Bandscheibenprothese aus Metall und Kunststoff: erst als revolutionäre Innovation gepriesen und unter hohem Risiko und Vollnarkose implantiert. Kurz darauf vom Hersteller kleinlaut als hochgefährlich eingestuft. Und schließlich, wiederum unter hohem Risiko sowie erneuter Vollnarkose, aus ihrem Körper herausoperiert. Was bleibt, ist der Schaden, prognostizierte Dauer: lebenslänglich. Karin Petermann ist 42 Jahre alt.

Rückruf für Galileo

Ihr Leiden beginnt 2008, die Schmerzen im Halswirbelbereich sind unerträglich, Ärzte empfehlen eine Bandscheibenprothese Typ "Galileo" der Firma Signus Medizintechnik GmbH. Die Operation ist schwierig, aber vielversprechend - dank der künstlichen Bandscheibe wird die Patientin künftig weniger Beschwerden haben. Denken jedenfalls Karin Petermann und ihre Ärzte. Zwei Jahre später dann der Rückruf durch den Hersteller: Die Galileo-Prothese, warnt Signus im März 2010 in einem Schreiben an die behandelnden Kliniken, könne "zu Fehlfunktion mit erheblichen Verletzungen des umliegenden Gewebes bis hin zu einer dauerhaften Schädigung von Nerven und/oder Rückenmark führen. […] Daher raten wir Ihnen, alle betroffenen Patienten unverzüglich einzubestellen und die Prothese schnellstmöglich zu explantieren."

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) wird Anfang August sein "Versorgungsstrukturgesetz" dem Kabinett vorlegen. Es soll zum 1. Januar 2012 in Kraft treten. Neben der Bedarfsplanung und der Honorierung niedergelassener Ärzte befasst sich das Gesetz auch mit der Problematik der Nutzenbewertung von Medizinprodukten und nichtmedikamentösen Behandlungsmethoden.

Anders als bisher soll der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), also das höchste Beschlussorgan der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, für Medizinprodukte, deren Nutzen nicht ausreichend belegt ist, erstmals wissenschaftliche Erprobung und Evaluation von der Industrie einfordern können. Hierbei würde der GBA Studiendesign und Qualitätsanforderungen festlegen dürfen. Die Kosten für diese klinische Forschung würden zwischen dem Hersteller und der gesetzlichen Krankenversicherung geteilt.

Die studienbegleitende Erprobung soll nur zusätzlich erfolgen; Kliniken und Krankenhäuser dürften die fraglichen Medizinprodukte also wie bisher weiterhin verwenden, obwohl ihr patientenrelevanter Nutzen nicht hinreichend belegt ist.

Seither kämpft Karin Petermann. Um Schadenersatz, um Schmerzensgeld, um ihr Leben. "Es handelt sich eindeutig um einen Herstellungsfehler", sagt ihre Rechtsanwältin Annika Zumbansen aus Berlin, "deswegen muss der Hersteller für sein Produkt haften." Zumbansen und ihr Kollege Jörg Heynemann haben sich auf Medizinrecht spezialisiert, ihre Kanzlei vertritt zahlreiche Patienten, die etwa durch fehlerhafte Hüftendoprothesen, Wirbelprothesen oder Elektroden von Herzschrittmachern geschädigt wurden.

Karin Petermann ist kein Einzelfall: Das Einsetzen von künstlichen Gelenken und Prothesen gehört zu den häufigsten Operationen in Deutschland; in Kombination mit immer kürzeren Innovationszyklen und einem extrem lax geregelten Marktzugang für Medizinprodukte führt das in einigen Fällen dann auch dazu, dass Entwicklungs- und Materialfehler oft erst entdeckt werden, wenn die Prothese längst implantiert ist.

Allein die Zahl der Hüft-Operationen ist nach Angaben der Krankenkasse Barmer GEK zwischen 2003 und 2009 um 18 Prozent gestiegen; die Zahl der Knie-Operationen im gleichen Zeitraum sogar um 52 Prozent. Gleichzeitig, so die Hochrechnung der Barmer GEK, hat die Zahl der Revisionseingriffe, also der Austauschoperationen aufgrund von Lockerung, Auskugeln oder Bruch, bei den Hüften um 41 Prozent zugenommen, bei den Knien sogar um 117 Prozent.

Lukrative Möglichkeiten

Deutschland ist das Land mit der höchsten Prothesendichte weltweit. Soziologen sprechen von einem "Age-Quake": je älter die Bevölkerung, je verheißungsvoller das Versprechen steigender Lebensqualität, und vor allem: je lukrativer die Verdienstmöglichkeiten für Hersteller und Ärzte (neue Hüfte: etwa 7.626 Euro, neues Knie: etwa 7.373 Euro, jährliche Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung für beide Operationsformen sowie Revisionen: 3,5 Milliarden Euro), desto dramatischer der Anstieg künstlicher Gelenke-Operationen - Fehlerrisiken inklusive.

Tatsächlich kann mangels zentraler statistischer Erfassung niemand in Deutschland derzeit verlässlich sagen, wie viele Schäden welchen Ausmaßes jährlich entstehen aufgrund im Körper zerbrochener, von den Firmen eilig zurückgerufener oder von Ärzten falsch eingesetzter Prothesen. Niemand kann die Historie eines künstlichen Gelenks und seiner etwaigen Materialschäden nachvollziehen, niemand vermag zu rekonstruieren, welche Klinik wie viele Prothesen welchen Typs implantiert und nach wie vielen Jahren aus welchem Grund und mit welchen etwaigen Komplikationen wieder explantiert hat.

Was im Automobilsektor undenkbar wäre, ist im deutschen Gesundheitssystem gang und gäbe. "Es müsste ein amtlich geführtes, verpflichtendes Meldewesen für Medizinproduktschäden samt Register geben", fordert auch die Anwältin Annika Zumbansen. Schweden, Australien, die USA - viele Länder haben längst solche Implantateregister eingerichtet und so über die Jahre viel Geld eingespart: Mehr Transparenz, so die Faustformel, schafft mehr Kontrolle und damit auch mehr Möglichkeiten, aus Fehlern zu lernen.

Und Deutschland? Debattiert seit Jahren der Gemeinsame Bundesausschuss, das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, über die Einrichtung eines verpflichtenden Implantateregisters - ergebnislos. "In Deutschland", bilanziert der CDU-Gesundheitspolitiker Rolf Koschorrek, "sind wir in der Versorgungsforschung einfach schlecht."

Krankenhäuser landauf, landab scheuen die Auskunft aus Angst vor möglichem öffentlichen Ranking und Imageverlust - unterstützt werden sie von Landes- und Bundespolitikern, die die Arbeitsplätze und die Unternehmensinteressen im Wahlkreis fest im Blick haben. Offiziell werden dann "datenschutzrechtliche Bedenken" zur Begründung angeführt. Das Bundesgesundheitsministerium unterdessen windet sich, man halte ein Implantateregister "aufgrund der für die Bildung einer statistisch signifikanten Aussage notwendigen relativ langen Zeiträume für prinzipiell ungeeignet, zeitnah die zum Schutze der Patienten notwendigen Entscheidungen zu treffen".

Derweil streiten Implantatehersteller um die Zahlenhoheit über die korrekten Bruch- und Revisionsraten und wehren sich vehement gegen Forderungen nach strengeren gesetzlichen Marktzugangs- und Nutzenbewertungen, über die der Bundestag nach der Sommerpause abstimmen wird.

Immerhin: Ein "Endoprothesenregister Deutschland" (EPRD) zur Erfassung zumindest der Hüft- und Knieproblematiken ist in Deutschland seit April im Aufbau, jedoch ausschließlich auf freiwilliger Basis. Kassen und Kliniken entscheiden selbst, ob sie mitmachen oder nicht. Getragen wird das Register von der EPRD gGmbH, einer 100-prozentigen Tochtergesellschaft der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie. "Peinlich", findet der Biomechaniker Michael Morlock diese Freiwilligkeit: "Das Register wird eine geringe Aussagekraft haben." Würden weniger als 97 Prozent aller Fälle erfasst, dann sei ein Register nichts wert.

Vieles gar nicht gemeldet

Dabei ist der Aufklärungsbedarf unbestritten: "Problematisch sind vor allem die innovativen Produkte, die zu schnell in den Markt gepresst wurden", hielt Nikolaus Böhler, Leiter des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Linz in Österreich und Vorstandsmitglied der Europäischen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie, den Industrievertretern auf ihrem Berliner Gipfel vor. Dass der Aufschrei nicht größer und "viele Fehler gar nicht gemeldet" würden, hätten die Hersteller der "schlechten Operateursschulung", einer nicht ausreichenden Weiterbildung der Mediziner sowie der Angst vieler Ärzte vor der eigenen Unzulänglichkeit zu verdanken: Wenn es Probleme mit Implantaten gebe, sagte Böhler, dann glaubten viele Chirurgen, sie selbst hätten einen Fehler gemacht, anstatt das "Versagen der Implantate" zu erkennen.

Der Druck auf die Ärzte, ergänzte der Ärztliche Direktor der Endo-Klinik Hamburg, Thorsten Gehrke, sei extrem. Schuld daran sei - auch - die Industrie: "Ihre Marketingmaßnahmen für künstliche Gelenke", schimpfte Gehrke, "haben über Jahre auf sportliche Menschen abgezielt." Erwartungen auf dauerhaften Erhalt beziehungsweise Wiederherstellung maximaler Lebensqualität seien so bei den Patienten geweckt worden, die weder die Ärzte noch die Produkte erfüllen könnten: "Kunstgelenke bleiben Kunstgelenke."

Und deren von Herstellerseite viel beschworene präklinische Testung und Risikoanalyse seien schon lange "kein Garant für klinischen Erfolg" mehr, beanstandete Michael Morlock. Der Grund: Die tatsächlichen Belastungen, denen die künstlichen Gelenke im Alltag ausgesetzt seien, würden bei den klinischen Prüfungen gar nicht erfasst: "Wir testen auf Gehen, nicht auf Marathon."

Karin Petermann ist nie Marathon gelaufen; könnte sie einige Schritte schmerzfrei tun, dann hätte sie ihre Sicht der Dinge möglicherweise persönlich zu Protokoll geben können beim Sommergipfel der Medizinproduktehersteller. Deren neues Werbeplakat, in Berlin vorgestellt, heißt übrigens: "Die Wirbelsäule ist ein Wunder. Durch Technik bewahrt sie Haltung."

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