Propaganda in den Medien: Die „neue Türkei“

Klassische und soziale Medien kreieren ein neues Bild der Türkei. Dafür wird eine aufwändige Desinformationspolitik betrieben.

Demonstration, viele Türkeifahnen in der Luft. Ein Porträt von Erdogan wird getragen

Damit Erdogan weiter gefeiert wird, setzt die AKP auf eine Desinformationsstrategie Foto: dpa

Der türkische Staatspräsident ist ein ambitionierter Mann. Alles soll unter seiner Regentschaft anders werden und der türkische Staat, gegründet 1923, in dieser Form nicht mehr existieren. Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgt die autokratische AKP-Regierung die Strategie ihre Sicht auf die türkische Geschichte und Gegenwart unter das Volk zu bringen. Hierzu wird eine aufwendige Desinformationspolitik betrieben.

Das hundertjährige Jubiläum der Republik fungiert als archimedischer Punkt, der das Land auf die Ebene der „Neuen Türkei“, einer Synthese aus Machismo, Hyperreligiösität und Hypernationalität, führen soll. Daher gibt es auch keine Rede des Staatspräsidenten ohne die Nennung der magischen Jahreszahl 2023.

Die „Neue Türkei“ braucht Zahlen, Farben und Symbole, um sich von der Türkei Atatürks abzugrenzen. Die bisher erfolgreiche Erzählung, “Wir sind die Opfer der kemalistischen Eliten“, zählt seit der Entmachtung des Militärs und dem Putschversuch nicht mehr. Der neue Slogan lautet: „Wir sind Enkel der mächtigen Osmanen.“

Zugpferd der Desinformationsstrategie ist die Medienkonzentration der regierungsfreundlichen Medienhäuser: allen voran Staatssender TRT, die Nachrichtenagentur Anadolu und die unzähligen Privatsender und Zeitungen. Propaganda – sie nennen es „ihre Version der Geschichte“.

Benno Ohnesorg liegt blutend auf dem Boden, Friederike Hausmann beugt sich über ihn

2. Juni 1967: Ein Schuss tötet den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dieses Datum markiert den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News und alternative Fakten, über Verschwörungstheorien, bürgerliche Zeitungen und alternative (auch rechte) Blätter, über die „Wahrheit“ und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen. Nachdenken über 50 Jahre Gegenöffentlichkeit: taz.gegen den stromDie Sonderausgabe taz.gegen den strom – jetzt im taz Shop und auf www.taz.de/gegenoeffentlichkeit

Nach den Gezi-Protesten, als das Narrativ des starken Staats per millionenfacher Tweets unter Beschuss stand, weitete die AKP ihre Hoheit umgehend auf die sozialen Medien aus. So wurde in der Nacht des Putschversuchs im Juli 2016 das Internet nicht wie bei vorhergehenden schrecklichen Ereignissen gesperrt – ein probates Mittel, um unliebsame Berichterstattung zu verhindern. „Sie wollten, dass wir berichten“ lautet die Einschätzung einer deutschen Kollegin aus Ankara.

Waren vor Jahrzehnten noch klassische Medien wie das Radio oder das Staatsfernsehen Instrumente der Staatsmacht, bedient sich die AKP-Regierung der Macht der sozialen Medien. PR-Firmen wie Bosphorus Global versuchen mit mehreren Twitteraccounts wie „FactcheckingTR“, die Berichterstattung zur Türkei im Sinne der Regierung zu beeinflussen.

Unter anderem bieten sie ein eigenes Factchecking zum Wikipedia-Verbot der türkischen Kommunikationsbehörde an. Wer hinter der PR-Agentur steckt, ist auf den ersten Blick unklar, da auf ihrer Internetseite kein Impressum vorhanden ist. In der Türkei hat auch die Methode der Broschüren Bestand.

Nach dem vereitelten Putschversuch 2016 steckte in der Reihen der nationalen Fluglinie Turkish Airlines ein kostenloser Fotoband der Nachrichtenagentur Anadolu. Auf 47 Seiten wird der Aufstand des Volkes gegen den Putsch verherrlicht und eine eigene Version von „Wir sind das Volk“ zelebriert. Im März diesen Jahres wurde in eine Werbebeilage der FAZ die Türkei gefeiert, unter anderem von Ex-Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, der die Weltoffenheit und Köfte lobte.

Botschaft einer starken Nation

Der Weg der türkischen Regierung, die Deutungshoheit in seiner Außenwirkung zurückgewinnen zu wollen, führt auch über ausländische Berichterstatter*innen. So berichten auf Einladung der türkischen Regierung amerikanische Journalist*innen über eine Butterfahrt, die eigentlich Interviews mit hochrangigen Politikern aus der Führungsriege versprach. Stattdessen lud der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökcek, zum Abendessen und hielt einen Vortrag über das falsche Türkei-Bild westlicher Medien.

Einen Schritt weiter ging die Regierung mit der gezielten Platzierung von Fake-News. Am 11. Mai 2017 wurde Frank Kaiser, Mitarbeiter der Deutschen Handelskammer in der Türkei, in einer Werbebeilage der FAZ mit dem Satz, „Das Potenzial des Landes ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft“, zitiert. Das ganzseitige Interview erschien unter dem Slogan „Turkey – discover the potential“ – erstellt im Auftrag des türkischen Wirtschaftsministeriums.

Kaiser lässt Tags darauf in derselben Zeitung verkünden, sein Porträtfoto sei am Rande einer Veranstaltung entstanden und die Gesprächsfetzen stammten aus vorhergehenden Interviews. Der Schaden durch „Fake News“ für das Ansehen der türkischen Regierung ist gering. Denn es geht allein um den Auftrag: platziere unsere Botschaft einer starken Nation. Egal wie.

Wie schafft man also eine Gegenöffentlichkeit?

Neue Nachrichtenportale entstehen

Das hundertjährige Jubiläum der Republik fungiert als archimedischer Punkt, der das Land auf die Ebene der „Neuen Türkei“, einer Synthese aus Machismo, Hyperreligiösität und Hypernationalität, führen soll

Kritiker*innen im eigenen Land werden im besten Fall in die Arbeitslosigkeit gedrängt und im schlimmsten in die Gefängnisse. Dazu gehören auch ausländische Journalist*innen wie Deniz Yücel, Mesale Tolu, der Fotojournalist Mathias Depardon sowie Gabriel Del Grande, der inzwischen wieder frei ist. Allerdings schaffen es Medienschaffende selbst unter diesen Umständen, Schlupflöcher für kritische Stimmen zu öffnen.

Klassische Printmedien wie Cumhuriyet, Birgün oder Evrensel machen sich mit geringer personeller wie finanzieller Ausstattung nach wie vor stark für die oppositionellen und ungehörten Stimmen des Landes. Dazu gehören oppositionelle Journalist*innen und Nachrichtenportale, die über das Internet oder soziale Medien immer wieder versuchen, Nachrichten zu verbreiten.

So wie Medyascope, einem Webportal, welches politische und gesellschaftliche Themen im Videoformat abbildet – täglich und sogar in den Sprachen Kurdisch, Englisch und Deutsch.

HaberSIZsiniz ist eine weitere von auftragslosen Journalist*innen gestartetes Nachrichtenportal. Unter der Leitung der mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichneten Journalistin Banu Güven verbreitet das Medium über Twitter und Periscope Live-Videos von Demonstrationen und führt Interviews mit Oppositionellen.

Handykameras als Beweismittel

Nicht zu unterschätzen ist die Rolle der Bürgerreporter*innen. Sie sind diejenigen, die ihre Handykameras als Beweismittel nutzen. Vor allem in den kurdischen Regionen der Türkei sind sie unerlässlich. Das Webportal Ekmek ve Gül, eine von Frauen gegründete und geführte Medienplattform, bezieht seine Nachrichten vor allem aus dem Alltag der Frauen, die ihre Themen mit der Redaktion von Ehrenamtlichen setzen.

„Wir arbeiten ständig unter Strom“, erklärt eine Journalistin aus Ankara. Bloß schnell das Foto schießen, ein paar Notizen machen und weg. Jeder Tag mit einer veröffentlichten Nachricht sei ein guter Tag. Die Art des Arbeitens habe sich verändert: man teile sich seinen Laptop, wenn das Gerät des Kollegen von der Polizei eingezogen wurde.

Ein Netzwerk aus Kolleg*innen, denen man vertrauen kann, sei unerlässlich. Sicherheitsstandards, die den europäischen und amerikanischen Kolleg*innen in erster Linie vorschwebten, wie etwa verschlüsselte Kommunikation sei deshalb zweitrangig. Angesichts der Willkür, mit der die Regierung gegen die Journalist*innen vorgehe, sei vordergründiger Schutz wie Verschlüsselungen, wenig hilfreich.

Sie sind aber nicht die einzigen, die sich für Gegenöffentlichkeit engagieren. So wie Yaman Akdeniz, Justizprofessor und Internetaktivist. Schon wegen ihres Berufs können diese Fachpersonen eine beträchtliche Anzahl an Followern vorweisen und können mit ihrer Vernetzung in die intellektuelle Sphäre des Landes eine Gegenöffentlichkeit bilden.

Vernetzung und Empowern

Die Art des Arbeitens habe sich verändert: man teile sich seinen Laptop, wenn das Gerät des Kollegen von der Polizei eingezogen wurde

Besonders beeindruckend ist die Mobilisierung von Bürger*innen, die sich per App an der Auszählung der Wahlzettel beim Referendum beteiligten und nach dem Wahlausgang zu Tausenden die Stimmprotokolle abfotografierten. Die App der NGO „Oy ve Ötesi“ (Stimmen und mehr), die sich bereits bei den vorhergehenden Wahlen als Bürgerplattform einen Namen gemacht hatte, hat eine kurzfristige, aber visuell präsente Gegenöffentlichkeit geschaffen.

Vernetzung, Solidarität und gegenseitiges „Empowern“ sind nicht nur in der Türkei ein probates Mittel, um sich gegen die überbordende Desinformation zu wehren. Transnationale Nachrichtenplattformen wie bianet, ArtiGercek, Özgürüz, Gözkulak und natürlich auch taz.gazete.

Sie fungieren als türkische und deutschtürkische Nachrichtenplattformen aus Deutschland deshalb nicht nur als reine Verbreitungsnetzwerke, sondern sind auch ein stützendes und solidarisches Gegengewicht für die Kolleg*innen in der Türkei und anderswo. Wie formulierte es Idil Baydar aka Jilet Ayse auf dem Raki-Tafelgespräch beim taz.lab 2017 so schön? „Wir sind Alliierte.“

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Ebru Tasdemir, Jahrgang 1973, und Canset Icpinar, Jahrgang 1984, haben 2014 das Buch „Ein ‚türkischer‘ Sommer in Berlin“ veröffentlicht. Sie sind Redakteurinnen bei der taz.gazete.

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