Protest in China: Bürgerwut trifft auf brutale Polizei
In Südwesten Chinas hat ein Mobbingfall unter Schülerinnen zum Massenprotest empörter Bürger geführt. Diese kritisieren die Reaktion der Behörden.
Die Polizisten prügelten auf die Menge ein, zerrten Einzelne über den Asphalt und fuhren sie schließlich auf vergitterten Ladeflächen von Lkws wie Vieh ab.
Was löste den Volkszorn aus? Der sogenannte Jiangyou-Vorfall startete mit einem auf den ersten Blick unpolitischen Kriminalfall. Ein 14-jähriges Mädchen aus einfachen Verhältnissen – die Mutter taubstumm, der Vater körperlich behindert – wurde von drei Mitschülerinnen in ein verlassenes Gebäude gelockt.
Dort misshandelten sie ihr Opfer über Stunden. Traten auf das Mädchen ein, schlugen es mit einem Wasserrohr, rissen seine Kleider vom Leib. Stolz nahmen die Täterinnen, ebenfalls zwischen 13 und 15 Jahren, die Folter per Handykamera auf.
Behörden reagierten erst nach massivem öffentlichen Druck
Die Misshandlung fand bereits am 22. Juli statt, doch handelten die alarmierten Behörden offenbar langsam und unmotiviert. Erst nach massivem öffentlichen Druck gaben sie eine Erklärung ab, wonach die Täterinnen mit milden Strafen davon kamen – zwei sollen angeblich auf eine Schule mit besonderen Erziehungsmaßnahmen versetzt werden, eine kam mit einer Belehrung davon.
Der Vater des Opfers, ein Analphabet, soll zudem von der Polizei gedrängt worden sein, eine Einigung zu unterzeichnen, die er nicht verstand.
Die Öffentlichkeit vermutete eine Zweiklassenjustiz. Denn die Eltern der Täterinnen, so hieß es in Gerüchten in den sozialen Medien, hätten gute Verbindungen zu den Autoritäten.
Mit Hunderten Sympathisanten zog die Familie des Opfers zur Stadtverwaltung, wo einige Personen das Gebäude stürmten. Die Polizei mobilisierte Sondereinheiten und mindestens ein Militärfahrzeug mit Störsender, um Internet und Mobilfunk zu blockieren.
Umgehung der Zensur mit Hilfe von US-Plattformen
In Chinas Internet ist der Jiangyou-Vorfall ein politisch heikles Thema. Die staatlich kontrollierten Medien dürfen nur anhand strenger Richtlinien berichten. Und in den sozialen Medien selektiert der Algorithmus der Zensurbehörden, welche Kommentare öffentlich werden.
Doch Aktivisten im Ausland, die schon seit Jahren Chinas Protestbewegungen beobachten, konnten Bilder in den wenigen Minuten, bevor die Zensur greift, vom Vorfall archivieren. Dann wurden Videos und Texte auf X, Youtube oder Instagram hochgeladen. Auf diese US-Plattformen hat Chinas Zensur keinen Zugriff.
Dort können Chinesen mit einer VPN-Software über das Thema debattieren. „Mein Herz schmerzt“, kommentiert ein Internetnutzer. Ein anderer meint: „Eine Regierung ohne Glaubwürdigkeit; ein Nährboden für Korruption und Bestechung; ein Land, das bis in seine Grundfesten verdorben ist.“
„Der Fall ist zwar nicht einzigartig, aber er hat mich echt aufgeregt, weil ich selbst mal Opfer von Mobbing in der Schule war“, erinnert sich ein Chinese, der heute im Ausland lebt: Vor Mitschülern, gaffenden Passanten und sogar dem Wachmann der Schule wurde er einst krankenhausreif geschlagen. Die Anzeige habe die Schulleitung versucht zu unterbinden, um ihre Reputation nicht zu beschädigen.
Kleine lokale Proteste sind in China alltäglich
Tatsächlich gibt es jedes Jahr Tausende soziale Proteste in China. Meist finden sie fern der Öffentlichkeit statt. Es sind lokale Proteste mit wenigen Teilnehmenden gegen Zwangsumsiedlungen, ärztliche Behandlungsfehler und korrupte Kader.
Der Sinologe Christian Göbel von der Universität Wien hat soziale Medien ausgewertet, nach welcher Logik die Behörden entscheiden, ob sie Proteste unterdrücken oder nicht. Zielten sie auf finanzielle Zugeständnisse von lokalen Regierungen, „ist eine Unterdrückung weitaus wahrscheinlicher als bei Protesten, die sich gegen nichtstaatliche Einrichtungen richten“, schrieb Göbel 2021.
Auch sei die Zahl der Demonstrierenden entscheidend: Je mehr protestierten, desto wahrscheinlicher greift die Polizei ein.
Auch Ende 2022 war dies der Fall, als erstmals seit Jahren Demonstranten in den großen Metropolen direkt die Zentralregierung herausforderten. „Nieder mit Xi Jinping!“, schrie eine Mengen in Shanghai bei Protestern gegen die Null-Covid-Politik.
Identifikation dank effektiver digitaler Überwachung
Doch zeigte sich auch die Macht des digitalen Überwachungsstaates: Sämtliche Demonstranten, auch wenn sie ohne Smartphone auf die Straßen zogen und Gesichtsmasken trugen, konnten identifiziert werden. Einige kamen mit einem Verhör und einer Verwarnung davon, andere verschwanden über Monate.
Dass sich der Jiangyou-Vorfall jetzt ausbreitet, ist unwahrscheinlich. Schon am Dienstagmorgen riegelte die Polizei die Innenstadt ab.
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