Proteste gegen Rassismus in den USA: Zeit, zurückzuzahlen

Sie protestieren von New York bis San Francisco. Der Tod von George Floyd hat eine Massen­bewegung in Gang gebracht. Doch Trump hetzt weiter.

Ein Mann mit Spiderman-Kostüm steht mit erhobener Faust auf einem Container.

Es reicht. In Amerika stürmen die Menschen die Straßen, um gegen Rassismus zu demonstrieren Foto: Eduardo Munoz/reuters

NEW YORK taz | „I have a dream“ steht auf dem Transparent, das Juliette Blevins an diesem Sonntag durch Manhattan trägt. Als Kleinkind war sie mit ihren Eltern dabei, als Martin Luther King auf der Mall in Washington seine berühmte Rede hielt – und von seinem Traum von einem Land berichtete, in dem Schwarze und Weiße gleiche Rechte haben. Damals schien es, als ginge die Zeit des systemischen Rassismus in den USA zu Ende. Aber 57 Jahre später demonstriert Blevins, die inzwischen Karriere als Linguistin gemacht hat, erneut gegen das Übel, das so alt ist wie die Geschichte ihres Landes. Aktueller Anlass ist der Tod des unbewaffneten schwarzen George Floyd unter einem Polizeiknie in Minneapolis.

Die Demonstration beginnt am Südende des Bryant Park. Punkt 5 Uhr am Nachmittag kommen mehrere Hundert Menschen an dem Springbrunnen dort zusammen. Es ist eine bunt gemischte Menge. Durchschnittsalter unter 30. „I can't breathe“ – Ich kann nicht atmen: die letzten Worte von Floyd – steht auf Gesichtsmasken und auf Transparenten. Außerdem ist zu lesen: „Sagt seinen Namen“ und: „Randale ist die Sprache der Stimmlosen“ – ebenfalls ein Zitat von „MLK“.

Die Versammelten haben ihren Treffpunkt auf den sozialen Medien veröffentlicht. Sie beginnen mit einem Schweigemoment, bei dem sie mit erhobenen Fäusten niederknien. Als sie sich wieder erheben, ruft jemand aus der Menge die Namen der schwarzen Frauen und Männer auf, die zuletzt von Polizisten getötet worden sind. Die anderen wiederholen die Namen. Es ist eine radikal verkürzte Opferliste. Trotzdem dauert die Aufzählung Minuten lang.

Blevins und die anderen weißen DemonstrantInnen im Bryant Park sind überzeugt, dass der Rassismus in ihrem Land erst enden wird, wenn sich auch weiße AmerikanerInnen dagegen stemmen. Sie ist mit ihrer erwachsenen Tochter Rebecca gekommen. Die beiden Frauen haben das Risiko abgewogen und sind schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass sie ihr „weißes Privileg“ nützen müssen, um den Rassismus zu bekämpfen. Rebecca Blevins erzählt von schwarzen Freunde, die erschöpft vom alltäglichen Rassismus sind. Sie will sie nicht allein lassen.

New York ist weiterhin ein Schwerpunkt der Covid-19-Pandemie, das Ansteckungsrisiko ist trotz der abflachenden Kurve an Neuinfektionen groß. Während sich die Straßen der Stadt allmählich wieder mit Menschen füllen, denken viele zugleich an das Abebben der ersten Welle der Spanischen Grippe im Spätherbst 1918, vor mehr als einhundert Jahren. Im November 1918 waren die New Yorker erstmals wieder zuhauf auf die Straße gekommen, um das Ende des Ersten Weltkriegs zu feiern. Die Feste, bei denen sich die Menschen wieder nahe kamen, miteinander tanzten, waren das Einfallstor für die zweite, viel tödlichere Welle der Spanischen Grippe.

Am Sonntag versucht Trump eine neue Eskalationsstufe. Per Tweet kündigt er an, dass er die Antifa zu einer „terroristischen Vereinigung“ erklären wird

Im Bryant Park tragen an diesem Sonntag die meisten DemonstrantInnen Gesichtsmasken. Und sie halten den gebührenden Sicherheitsabstand. Im Verhältnis zu den vielen anderen Dingen, die sie von dem US-Präsidenten unterscheiden, sind das Kleinigkeiten. Seit George Floyds Tod suchen die Oppositionellen nach Auswegen aus der Endlosspirale von polizeilicher Gewalt. Sie wagen sich auf die Straße und in Ansteckungsgefahr. Sie fordern Lösungen für Minneapolis – darunter die Entlassungen und Anklagen von allen vier verwickelten Polizisten – und sie entwickeln Vorschläge für eine Polizeireform.

Ihr Präsident hingegen flüchtet sich am Freitag, als Proteste vor dem Weißen Haus stattfinden, in einen unterirdischen Bunker. An den meisten anderen Tagen hetzt und polemisiert er und spaltet das Land. Seit dem Tod von George Floyd hat er Bürgermeister, die nach Verständigung suchen, als „Versager“ beschimpft. Hat DemonstrantInnen, die Gerechtigkeit verlangen, „Schläger“ genannt. Hat die Medien beschuldigt, „Hass und Anarchie“ zu verbreiten. Und Donald Trump hat seine Anhänger zur Gewalt ermuntert. An diesem Sonntag erreicht er die nächste Eskalationsstufe. Per Tweet kündigt er an, dass er die Antifa, deren Allgegenwart er bei gewalttätigen Protesten herbeifantasiert, zu einer „terroristischen Vereinigung“ erklären wird.

In den sieben Tagen seit dem Tod von George Floyd haben sich die Proteste wie ein Lauffeuer von kleinen Demonstrationen am Tatort in Minneapolis auf mehr als 75 Städte im Land ausgeweitet. Sie werden täglich größer. Tagsüber ziehen Menschen mit Transparenten durch die Städte. Nachts finden oft an denselben Orten Krawalle statt. Autos und Geschäfte und mindestens eine Polizeiwache sind in Flammen aufgegangen.

Doch es gibt nicht nur diese Bilder. In Louisville, Kentucky, wo die Polizei vor wenigen Wochen die schwarze Breonna Taylor in ihrer Wohnung erschossen hat, haken sich weiße Frauen unter, um eine Schutzwand zwischen Polizei und DemonstrantInnen zu bilden. In Camden, einem schwarzen Vorort von Philadelphia, laufen Polizisten in Uniform in der Demonstration mit und rufen Slogans gegen Polizeigewalt. In Baltimore liest ein weißer Polizist die Namen der von Kollegen getöteten schwarzen Menschen vor. In Florida gehen Polizisten zusammen mit den DemonstrantInnen auf die Knie, um das Andenken der Toten zu ehren. So entstehen neue Allianzen.

Auch in New York gibt es eine Handvoll mutiger Polizisten, die eine solche Geste wagen. Aber bei Demonstrationen in den Bezirken Queens und Manhattan knien nur jeweils drei und vier Uniformierte. Sie bekommen lang anhaltenden Beifall.

Während viele auf der Straße versuchen, den Konflikt zu lösen, zu trösten, zu vermitteln und zu heilen, liegen solche Gesten dem Präsidenten in Washington fern. Trump nutzt auch diese Krise, um seine Basis zu umwerben, um Wahlkampf zu machen und um seine Gegner wie auf einem Schulhof anzurüpeln. Am Sonntag beginnt er einen Tweet mit dem Ruf nach „Recht und Ordnung“, wobei er ausschließlich Großbuchstaben verwendet, und nennt seinen demokratischen Herausforderer Biden „schläfriger Joe“. Für seine schwarzen Landsleute, bei denen sich der Schmerz über das Polizistenknie auf dem Nacken eines wehrlosen schwarzen Mannes mit den Sorgen über die heraufziehende Rezession mischt, die die ohnehin Benachteiligten am härtesten trifft, zeigt der Präsident bisher keinerlei Mitgefühl.

Für den Schmerz über das Polizistenknie auf dem Nacken eines wehrlosen schwarzen Mannes zeigt der Präsident bisher keinerlei Mitgefühl

„Geld für Schulen und Krankenhäuser statt für die Polizei“ hat die 27-jährige Isabella auf ihr Transparent geschrieben. Sie will die öffentlichen Gelder umlenken. Und sie macht in ihrem eigenen Leben die Erfahrung, dass sie umso einsamer ist, je weiter sie auf der sozialen Leiter aufsteigt. „Da ist kaum noch jemand, die so aussieht wie ich“, sagt die Verhaltenstherapeutin, die auch als Mannequin arbeitet. Für die große Mehrheit der schwarzen Menschen in den USA gilt, dass alle Probleme sie härter treffen als die weiße Bevölkerung. „Wir sind diejenigen, die in der Pandemie die harte Arbeit machen, die uns der Ansteckungsgefahr aussetzt“, sagt Isabella, „und wir sind diejenigen, die krank werden, unsere Arbeit verlieren und sterben.“ 23 Prozent der Todesopfer der Pandemie sind Schwarze, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung nur 13 Prozent beträgt.

Viele der Protestierenden, die vom Bryant Park aus durch die Straßen von Manhattan ziehen, waren schon zuvor demonstrierend in New York unterwegs. Erst 24 Stunden zuvor haben sie den Hudson Parkway lahmgelegt, die Schnellstraße, die aus dem Norden entlang dem Hudson-Fluss in die Stadt führt. Die Demonstration auf der zentralen Verkehrsader ist ein Überraschungscoup. Als die DemonstrantInnen mittags an der 125. Straße Ecke Adam Clayton Powell Boulevard in Harlem zusammenkommen, weiß noch kaum jemand, wohin die Route gehen würde. Sieben Blocks später, als sie am Flussufer angekommen sind und den Verkehr zum Erliegen bringen, ist die Menge um 1.000 Menschen angeschwollen. Auf ihren Transparenten fordern sie auf Englisch und Spanisch das Ende des Rassismus. Jemand schwenkte eine mexikanische Fahne zwischen den Autos im Stau. Sie fühlten sich getragen von dem Hupen und den erhobenen Daumen der AutofahrerInnen.

Als die Polizei eine Meile weiter südlich Drohgebärden auf der Schnellstraße einnimmt, weichen die DemonstrantInnen ins Stadtinnere aus und ziehen in den Süden von Manhattan.

An diesem Sonntag versperrt die Polizei auf der 5th Avenue kurz vor dem Trumptower den weiteren Weg. Die DemonstrantInnen biegen in Richtung Osten ab. Rund um den Trump-Tower hämmert es. Die Besitzer der Luxusläden für Uhren, Schmuck und Kleidung lassen ihre Schaufenster vernageln. Offenbar rechnen sie mit Plünderungen, wie es sie in der Vornacht bei Demonstrationen weiter südlich in Manhattan und Brooklyn gegeben hat.

Für manche ist es nicht mit Verfahren gegen einzelne „Killer-Cops“ getan. Sie machen das ganze System für die Tötungen verantwortlich

Paul ist am Samstag und am Sonntag dabei. Der New Yorker Stadtplaner hat auf sein Transparent geschrieben: „Pigs go home“ – Schweine, geht nach Hause. Für ihn ist es nicht mit Verfahren gegen einzelne „Killer-Cops“ getan. Er macht das ganze System für die Tötungen verantwortlich. Er will Tausende von Strafverfolgungsbehörden im Land abschaffen. Er versteht es als seine „moralische Verpflichtung“, die Geschichte des Rassismus zu verstehen. „Als weißer Mann muss ich zurückzahlen“, sagt der 32-Jährige.

Die Abschaffung der Polizei ist auch bei afroamerikanischen Bürgerrechtsgruppen in der Diskussion. Auch in Minneapolis verlangen junge AktivistInnen danach. Die Menschen sind mit der alten rassistischen Gewalt, aber mit anderen Slogans und politischen Methoden groß geworden als jene, die in den 1960er Jahren mit Martin Luther King demonstriert haben. Die schwarzen Kirchen spielen für die Jungen nicht mehr so eine zentrale Rolle. Auch gegenüber der Demokratischen Partei ist ihre Distanz größer. Als sie erwachsen wurden, hatte ihr Land einen schwarzen Präsidenten. Aber die Polizeigewalt und die sozialen Diskriminierungen gingen weiter.

Benjamin kennt beide Welten von innen. Er ist bei seiner jüdischen Mutter in New York aufgewachsen. Sein Vater ist ein schwarzer Jamaikaner. Benjamin, heute ein Tennis-Coach auf der Upper West Side, war in einer Privatschule, seine Freunde waren weiße Kinder aus anderen wohlhabenden Familien. Aber in den Augen der Polizei ist er ein Schwarzer. „Ich kann lustige Geschichten über Rassismus erzählen“, sagt er. Im Alter von 14 wird er von Polizisten angehalten, als er mit seiner Mutter spazieren geht. Sie behaupten, der Junge sei ein Dealer und weigern sich, zu glauben, dass er mit seiner Mutter verwandt ist. Mit 18 gerät Benjamin in einem Auto, in dem er mit drei weißen Freunden unterwegs ist, in eine Polizeikontrolle. Alle vier jungen Männer haben Dope dabei, aber er ist der einzige, der festgenommen wird.

„Irgendwann reicht es einfach“, sagt die schwarze junge Frau, die an diesem Sonntag ganz in Schwarz zu der Demonstration gekommen ist – von der Kopfbedeckung über die Brille und den Mundschutz bis zu ihrer Kleidung. Es ist die erste Demonstration ihres Lebens. Sie will sich noch nicht mit ihrem Namen in die Öffentlichkeit wagen. Aber sie zeigt stolz ein schwarzes Transparent, das fast so groß ist wie sie selbst. In weißen Buchstaben hat sie darauf geschrieben hat: „Rassismus ist so amerikanisch, dass die Leute denken, dass du gegen Amerika bist, wenn du gegen den Rassismus protestierst.“

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