Proteste in Beirut: „Samstag der Rache“

Nach Massenprotesten in Beirut schlägt Libanons Ministerpräsident Diab Neuwahlen vor. Bis der Modus dafür klar ist, will er im Amt bleiben.

Ein Polizist in voller Montur inmitten einer Wolke aus Tränengas

Beirut am Samstag: Mit Unmengen Tränengas bekämpft die Polizei die Protestierenden Foto: Hassan Ammar/ap

BEIRUT taz | Aus Holz und Stricken haben die Protestierenden Henkerschlingen gebastelt und auf den Märtyrerplatz in der Beiruter Innenstadt gestellt. Eine junge Frau hält ein Schild mit der Aufschrift „Unsere Regierung tötet“ in die Höhe. Tausende Libanes*innen forderten am Samstagmittag den „Niedergang des Regimes“ und Gerechtigkeit für die Opfer der Explosion.

Am 4. August explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Lagerhaus am Hafen in Beirut. 150 Menschen wurden getötet, über 6.000 verletzt, rund 250.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Der Stoff verblieb nach bisheriger Erkenntnis sechs Jahre lang ohne Sicherheitsvorkehrungen in dem Lagerhaus, obwohl dessen Gefahr für die Stadt der politischen Elite bekannt war.

Aus Wut und Zorn über die Unfähigkeit der Politiker, die Menschen vor dem Unglück zu bewahren, besetzten die Protestierenden Ministeriumsgebäude und legten Feuer am Sitz des Bankenverbands. Ein Polizist kam ums Leben, als er in einem Hotel festsitzenden Menschen half und dann von einer Menschenmenge angegriffen wurde und tödlich gestürzt sei, erklärte die libanesische Polizei. Über 700 Menschen wurden verletzt, teilten das Rote Kreuz und der Islamische Hilfskorps mit. Die Polizei setzte Tränengas auf dem gesamten Platz ein, Aktivist*innen filmten, wie das Militär mit Stöcken auf Protestierende einschlug.

Die Menschen, die nun Schippen und Schaufeln in die Hand nehmen, um die Straßen und Wohnungen aufzuräumen, sind wütend auf die Regierung, deren Militär und Polizei untätig danebenstehen. Viele hatten noch Besen in der Hand, als sie auf dem zentralen Platz in Beiruts Innenstadt ihre Politiker für die Katastrophe verantwortlich machten.

Zentrale Forderung: Änderung des Wahlrechts

Elena Saade steht mit weißem Kittel auf dem Märtyrerplatz. Die 25-Jährige arbeitet als Anästhesistin im Krankenhaus und hätte eigentlich Dienst gehabt. „Mein Chef hat gesagt: Die Patienten brauchen dich jetzt [auf der Straße], nicht hier“, erzählt sie, während ihr Tränengas in die Augen steigt. „Was wir am 4. August in den Krankenhäusern erlebt haben, hat uns allen zu verstehen gegeben, wie wichtig es ist, auf die Straße zu gehen“, sagt sie, bevor das Interview aufgrund des vielen Tränengases abgebrochen werden muss.

Die Demonstrierenden sehen ihre Anstrengungen als Fortführung der Massenproteste, die am 17. Oktober 2019 begonnen hatten. Bereits damals verlangten die Menschen den Rücktritt ihrer Regierung, deren Korruption und Misswirtschaft das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise gebracht habe.

Auch wenn am 29. Oktober der ehemalige Regierungschef Saad Hariri und sein Kabinett zurückgetreten sind: Viele Libanes*innen sind unzufrieden mit seinem Nachfolger Hassan Diab. Dessen Kabinett besteht zwar aus Technokrat*innen, ist jedoch mit der alten Elite verbandelt und wird vor allem von der iran-nahen schiitischen Hisbollah und ihren Verbündeten unterstützt.

Eine wichtige Forderung der Revolutionsbewegung bleiben unabhängige Neuwahlen und eine Änderung des komplizierten Wahlrechts. Dieses verteilt die Sitze im Parlament nach Proporz, jede konfessionell geprägte Partei bekommt einen bestimmten Anteil. Das soll Stabilität und Frieden in dem Land gewähren, in dem 18 anerkannte Religionsgemeinschaften leben. Es führte aber auch zu einem klientelistischen System.

„Manche Menschen unterstützen ihre Parteien noch, weil sie hungrig sind. Sie werden [für Wahlen] gekauft, mit 10, 15 US-Dollar“, sagt die 24-jährige Marwa, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. „Aber glaub mir, die meisten haben es so satt. Unsere Herzen bluten, sie nehmen alles von uns, sogar unsere Leben.“

Als Reaktion auf den Protest sagte Regierungschef Diab, er schlage dem Parlament am Montag Neuwahlen vor. Diab gab den politischen Parteien zwei Monate, um sich über die nächsten Schritte einig zu werden und Reformen zu verabschieden, die das Land aus der Wirtschaftskrise bringen sollen. In dieser Zeit wolle im Amt bleiben.

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