Prozess zu verstorbener Vierjähriger: Rohkost statt Insulin

In Hannover stehen Eltern vor dem Landgericht, weil sie ihrer Tochter aus ideologischen Gründen das lebenswichtige Insulin verweigert haben sollen.

Die angeklagten Eltern können bislang nicht erklären, warum sie ihre Tochter nicht vom Facharzt betreuen ließen. Bild: dpa

HANNOVER taz | Ein Mädchen auf einem Pferd. Unter dem naiv gehaltenen Motiv steht auf dem kleinen Findling in Fraktur verfasst der Name: Sighild. Auf der Ahnenstätte Hilligenloh ist Sighild B., die nur vier Jahre alt wurde, beigesetzt. Vor der 13. Großen Strafkammer des Landgerichtes Hannover müssen sich seit Dienstag die Eltern Baldur und Antje B. wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“ verantworten.

In dem Schwurgerichtssaal mit hohen Fenstern und roten Vorhängen hielt am Vormittag der Staatsanwalt den Eltern vor, ab Juni 2009 ihrer Tochter nicht mehr die lebensnotwendige Menge an Insulin verabreicht zu haben. An Heiligabend des Jahres verstarb das Kind. Angespannt hörten der 32-jährige Vater und die 28-jährige Mutter mit ihren zwei Rechtsanwälten der Anklage zu.

Auffallend war, dass Antje B., eine schmale Frau mit langen dunklen Haaren, eine Hose trug. Sie selbst sagte, gerne „lange Röcke“ zu tragen. Auch Baldur B., trug nicht die Tracht, mit der er sich sonst mit der Familie sonst ablichten lässt. Wollte da Paar einen einschlägigen Eindruck vermeiden?

Denn die politischen Verstrickungen der Eltern sollen zu ihrem Verhalten geführt haben. Der Staatsanwalt hob in dem großen Saal, dessen Zuschauerplätze nicht alle belegt waren, den mutmaßlichen Grund ihres Handelns hervor – „weil sie an die Lehren von Ryke Geerd Hamer glaubten“. Sie seien deswegen nicht mit ihrer Tochter, die ab dem zweiten Lebensjahr Diabetes hatte, regelmäßig zum Arzt gegangen. Von 2007 bis 2009 sollen sie einmal mit dem Kind beim Arzt gewesen sein. Über eine Apotheke hätte sie ohne weitere Kontrollen Insulin bezogen. Kopfschütteln bei einigen Zuschauern.

Seit 1951 besteht die heidnisch-völkische "Gemeinschaft", die "ein Kampfverband" sein will, "um die Möglichkeit einer artgemäßen Lebensführung" erkämpfen zu können. Ihr "Sittengesetz" gebietet ihnen die "gleichgeartete Gattenwahl" zur "Gewähr für gleichgeartete Kinder".

Die Mitglieder kommen im "Hufhaus" bei Nordhausen für Brauchtumsfeste zusammen, dort wurde auch Familie B. gesehen.

Der rechte "Bund für Gotterkenntnis" verwaltet die Ahnenstätte bei Bremen, wo das Grab der Tochter der Familie B. liegt. AS

Mit leiser, aber fester Stimme versuchte Antje B. diesen Vorwurf zu entkräften. Ein „falscher Eindruck“ sei da entstanden. Von allen Seiten hätte es „Ratschläge zu der Diabetes“ gegeben. Jemand aus dem Bekanntenkreis hätte ihr von Hamer erzählt, sie habe sich dann mit seiner Methode beschäftigt, mal mit ihm telefoniert – als so unerheblich schildert sie die Verbindung. Später, auf Nachfrage der zwei Richter, wird Baldur B. mit noch leiserer Stimme und österreichischem Akzent einräumen, dass Kontakt bestand. Rohkost statt Insulin sollen die Eltern ihrer Tochter gegeben haben.

Vor über 30 Jahren gründete Hamer die „Germanische Neue Medizin“. Die Erkrankten, so lehrt der frühere Arzt, dem 1986 die Approbation entzogen wurde, bräuchten nur ihren „inneren Konflikt lösen“, um die Krankheit zu überwinden – und kämen so ohne medizinische Behandlung aus. Dass seine Habilitationsschrift und Lehre nicht angenommen wurden, führt Hamer auf den Einfluss „jüdischer Logen“ zurück. Diese führten eine „beispiellose Erkenntnisunterdrückungskampagne“. Er meint weiter, dass die „dumme alte Schulmedizin eigentlich eine jüdische Medizin“ sei und spricht von einem „Kampf der Talmud-Zionisten, alle Nichtjuden umbringen zu wollen“.

Im Schwurgerichtssaal erzählte Antje B. ausführlich von ihrem Leben, wie sie mit 17 Jahren zum ersten Mal schwanger wurde, das Abitur abbrach, sich aber auf das Kind freute. Über den Bekanntenkreis, aus dem der Hinweis auf Hamer kam, will weder er noch sie ausführlicher sprechen. In der heidnisch-völkischen „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft“ sind die Eltern mehrfach gesehen worden. Den Richtern gegenüber versuchte Baldur B., der Bodenmanagement und Wasserwirtschaft studierte, diese Treffen als unpolitische Familientreffen und als Kulturveranstaltungen darzustellen. „Patriotisch“ sei er, mehr nicht. Baldur und Antja B. stammen beide aus rechtsextremen Familien: die Mutter wuchs in der vom rechtsextremen Anwalt Jürgen Rieger geleiteten „Artgemeinschaft“ auf, der Vater war Mitglied in der 1994 verbotenen „Wiking-Jugend“. Beide bestreiten aber, Neonazis zu sein.

In der extrem-rechten Zuerst! Deutsches Nachrichtenmagazin erzählten die Eltern 2010 in einen mehrseitigen Text mit vielen Privatbildern vom Tod ihrer Tochter. Nicht ohne staatliche Behörden anzugreifen, die eine Obduktion angeordnet hatten.

Nicht wirklich erklären konnten die Eltern, warum sie die Tochter nicht von einem Facharzt betreuen ließen. Das Insulin bezogen sie von einer hausärztlichen Praxis in Uelzen, die nie überprüfte, ob das Kind tatsächlich im Klinikum Braunschweig in Behandlung war, wie die Eltern angaben. Die Ärzte des Klinikums Braunschweig hatten 2007 nach der Entlassung des Mädchens das Jugendamt eingeschaltet, weil sie den Eindruck hatten, die Familie lehne die Schulmedizin ab.

Vor den Richtern schilderten die Beschuldigten, die heute von Hartz IV im altmärkischen Wieschen mit ihren Kindern leben, die verhängnisvollen Weihnachtstage im Jahr 2009. Zuvor seien sie über die Diabetes von den Ärzten nicht richtig informiert wurden, mit den Methoden von Hamer wären sie auch nicht ganz glücklich gewesen. Er soll gemeint haben, Insulin sei nötig. In den Armen von Antje B. hatte das Mädchen am Abend des 24. Dezember 2009 vor sechs Jahren aufgehört zu atmen.

Angezeigt hat die Eltern der ältere Bruder des Vaters, die Geschwister sind nach dem Scheitern eines gemeinsamen Unternehmens verfeindet. Der Bruder nannte die Mutter nun eine „fast sektenmäßige Anhängerin der Theorien Hamers“. Das Gericht hat drei weitere Verhandlungstage, um die Vorwürfe aufzuklären.

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