Psychische Gesundheit: Geht es uns allen immer schlechter?
Ständig ist die Rede von Mental Health. Fragen und Antworten rund um psychische Erkrankungen zum Welttag der psychischen Gesundheit.
Nicht nur Nutzer:innen sozialer Medien, auch Journalist:innen haben viel zu psychischer Gesundheit zu sagen, wie die Verlaufskurve des digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache zeigt: Die steigt für die Wortkombination seit 2014 steil an. Aber worum geht es eigentlich? Antworten auf selten gestellte Fragen.
Was ist „psychische Gesundheit“?
Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ein „Zustand des Wohlbefindens, in dem der/die Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen und produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner/ihrer Gemeinschaft beizutragen“.
Wo beginnt „psychisch krank“?
Diagnosen psychischer Erkrankungen stehen auf ziemlich wackligem Boden. Die Psyche lässt sich nicht untersuchen; sie ist ein Konzept. Selten lassen Symptome Rückschlüsse auf Ursachen zu, mit einer Ausnahme: Psychotische Zustände wie bei Schizophrenien können jüngeren Erkenntnissen zufolge durch Immunreaktionen hervorgerufen werden.
Welche Rolle spielen Gene?
Es besteht ein erhöhtes Risiko für Angehörige von Erkrankten. Neue Untersuchungen mit großen Datenmengen wie eine im August in The Lancet publizierte Studie zeigen aber, dass beim überwiegenden Teil der Patient:innen keine Familienmitglieder betroffen sind.
Wie häufig treten psychische Erkrankungen auf?
Deren Gesamt-Diagnoserate ist zwischen 2012 und 2023 angestiegen, wie eine Auswertung des Robert Koch Instituts (RKI) zeigt; den größten Anstieg gab es 2014. So erhielten im Jahr 2012 35 Prozent aller Erwachsenen eine sogenannte „F-Diagnose“, 2023 waren es 5,4 Prozentpunkte mehr. Dazu zählen Demenz, Ess-, Schlaf- und somatoforme Störungen. Das, was gemeinhin unter „psychisch krank“ verstanden wird, macht die Hälfte der Diagnosen aus. Am häufigsten: Depressionen, gefolgt von Suchterkrankungen und Angststörungen. Über den gesamten Zeitraum war der Anstieg bei Männern stärker als bei Frauen, den größten Zuwachs hatte die Altersgruppe 60 bis 84. Das legt einen Aufholeffekt nahe, also dass psychische Erkrankungen nun häufiger als solche erkannt werden.
Den Menschen geht es also gar nicht immer schlechter?
Aus der letzten großen Bevölkerungsbefragung des RKI geht hervor, dass sich zwischen 2002 und 2012 keine Anzeichen dafür finden ließen, dass mehr Menschen als im Vergleichszeitraum davor psychisch erkrankten. Vergleichbar gute aktuelle epidemiologische Daten fehlen aber. Die Daten aus der 2019 aufgebauten Mental Health Beobachtungsstrategie des RKI lassen den Schluss zu, dass sich die Krisenerfahrungen der vergangenen Jahre negativ auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung ausgewirkt haben.
Dabei gilt: Menschen höheren Alters, mit niedrigen Bildungsstand und Frauen sind besonders betroffen. So wird für die letzte Septemberwoche 2024 nur noch bei 39,7 Prozent der Bevölkerung die psychische Gesundheit als „sehr gut“ oder „ausgezeichnet“ eingeschätzt. Zu Beginn der Erhebung Mitte März 2021 waren es knapp zehn Prozentpunkte mehr. Eine stetige Verschlechterung lässt sich aus dem Monitoring nicht ablesen: Die Kurve bleibt seit Ende 2022 auf demselben Niveau. Schaut man nur auf die für depressive Symptome, fiel sie zuletzt sogar ab.
Und wie sieht es bei Kindern und Jugendlichen aus?
Die aussagekräftigsten epidemiologischen Daten für Deutschland liefert das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), das jährlich Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 22 Jahren befragt. Im Vergleich mit den Jahren unmittelbar vor der Pandemie gibt es dem UKE zufolge fünf Prozentpunkte mehr Kinder mit psychischer Beeinträchtigung – im Herbst 2024 waren es 22 Prozent.
Und was sagt die Diagnoseprävalenz?
Die ist nach Auswertung des RKI zwischen 2012 und 2022 bei den 11- bis 17-jährigen Kindern so stark angestiegen wie bei den ältesten Erwachsenen. In der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen hatte 2012 jeder fünfte eine F-Diagnose, 2022 jeder vierte. Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen machten bei Minderjährigen zuletzt nur einen Anteil von 6,1 Prozent aus. Den größten Anteil haben Entwicklungsstörungen, darunter solche des Sprechens und der Sprache.
Nehmen Essstörungen bei Jugendlichen zu?
Die wenigen epidemiologischen Daten, die es gibt, sprechen dagegen. Drastisch zugenommen hat die Zahl der Krankenhauseinweisungen, vor allem bei Mädchen.Laut Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung hatten im Jahr 2017 62.380 Minderjährige die Diagnose einer Essstörung bekommen, das entspricht 0,54 Prozent aller F-Diagnosen.
Hilft Psychotherapie gegen psychische Erkrankungen?
Robert Koch Institut
Ja, das ist nachgewiesen, aber unklar bleibt, warum. Und sie hilft auch nicht allen. Nach internationalen Studien spricht mindestens ein Drittel der Patient:innen nicht auf die Behandlung an, erleidet einen Rückfall oder bricht die Behandlung vorzeitig ab. Das ist auch das Ergebnis einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse (TK) aus dem Jahr 2011. Bei Minderjährigen mit der Diagnose Depression schlägt laut einer Metastudie die Psychotherapie in 60 Prozent aller Fälle nicht an. Eva-Lotta Brakemeier, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Greifswald plädierte 2019 in einem Aufsatz für individualisierte Behandlungskonzepte, die evidenzbasierte Methoden und Techniken einschließen sowie Feedbacksysteme.
Welche Alternativen gibt es?
Der kontinuierliche Ausbau des psychotherapeutischen Angebots habe nicht zu einem Rückgang psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung geführt, schreibt Julia Thom, Projektverantwortliche für den Aufbau der Mental Health Surveillance am RKI, 2019 in einem Aufsatz. Daher müssten Präventionsangebote ausgebaut werden. Großen Einfluss auf das Wohlbefinden haben laut RKI die Bedingungen von Erwerbsarbeit einerseits und Arbeitslosigkeit andererseits. Das UKE weist darauf hin, dass das Risiko für Kinder und Jugendliche, psychisch zu erkranken, deutlich erhöht ist, wenn sie aus „Familien mit geringem Bildungsniveau stammen, die in beengten Wohnverhältnissen aufwachsen und deren Eltern psychisch belastet sind“. Die Zeit zitierte im September eine niederländische Umweltforscherin, die mit einem internationalen Team Daten zusammengetragen hat, unter welchen Bedingungen psychische Gesundheit gedeiht. Schlaf spiele neben den genannten Faktoren eine große Rolle. Und: Grünflächen.
Wie lang sind Wartezeiten für ambulante Psychotherapie?
Nach einer 2024 veröffentlichen Studie im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) der Krankenkassen und Kassenärzt:innen, haben von 2.200 erwachsenen Therapiesuchenden 90 Prozent innerhalb von drei Monaten ein Erstgespräch geführt und mit regelmäßigen psychotherapeutischen Sitzungen begonnen. Die Wartezeiten auf dem Land waren nach dieser Untersuchung nicht zwangsläufig länger. Das könnte daran liegen, dass in Städten anteilig mehr Psychotherapeut:innen praktizieren, die Bevölkerung dort aber auch häufiger psychisch erkrankt beziehungsweise sich mit Psychotherapie behandeln lässt.
Wirklich so kurz?
Berufsverbände und Fachgesellschaften geben etwas längere Wartezeiten an. Individuell können diese um ein Vielfaches länger sein, wenn jemand zu einer/einem bestimmte:n Therapeut:in will oder kein Deutsch spricht. Menschen nach Gewalterfahrungen fänden auch nur schwer passende traumatherapeutische Hilfe, sagt eine Sprecherin des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und -notrufe der taz.
Behandeln Psychotherapeut:innen nur die leichten Fälle?
Nach der TK-Untersuchung hatten 92 Prozent der von Psychotherapeut:innen behandelten Patient:innen eine mittlere bis schwere klinische Beeinträchtigung. Allerdings sind nicht alle Diagnosen gleich vertreten. Laut Report Psychotherapie der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) aus dem Jahr 2021 war bei einem Drittel der Patient:innen der Behandlungsanlass eine schwere Belastung, bei einem Viertel eine Depression und nur in 0,55 Prozent der Fälle eine Schizophrenie, eine mit schweren Wahrnehmungsstörungen einhergehende Erkrankung. Zum Vergleich: Die Diagnoseprävalenz für Depressionen lag laut RKI zuletzt bei 13,9 Prozent, für Schizophrenie bei 0,9 Prozent. Letztere ist eine der Hauptursachen für eine stationäre Behandlung.
Woran kann das liegen?
Zu wenig Psychotherapeut:innen seien dafür qualifiziert, sagt Dorothea von Haebler, Vorstandsvorsitzende des Dachverbands Deutschsprachiger PsychosenPsychotherapie und Oberärztin an der Berliner Charité. Denn erst seit 2014 stellen psychotische Erkrankungen eine Indikation für Psychotherapie dar, diese galt bis dahin als schädlich. Diese Falschannahme sei weiterhin verbreitet, sagt von Haebler, auch unter Patient:innen. Zudem sei die Hürde, mehrere Therapeut:innen anzurufen, die ihnen sagen, sie hätten keine Kapazitäten, für verängstigte und misstrauische Menschen sehr hoch.
Wer nimmt in Deutschland Psychotherapie in Anspruch?
Am seltensten „die mit dem größten Risiko psychisch zu erkranken“. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie aus dem Jahr 2017, die Abrechnungsdaten der AOK Niedersachsen ausgewertet hatte. Je höher das Einkommen beziehungsweise Qualifikation oder Beschäftigungsniveau, desto häufiger ließ sich jemand psychotherapeutisch behandeln. Bei den 41 bis 59 Jahre alten Frauen hatten drei Mal so viele derjenigen mit einem Hochschulabschluss eine Psychotherapie gemacht wie die ohne Ausbildung. Der Anteil von Frauen war überwiegend zwei bis drei Mal so hoch wie der von Männern.
Wächst die Akzeptanz für psychische Erkrankungen?
Eine Langzeitstudie zeigt, dass die Stigmatisierungserfahrungen von schwer psychisch Kranken in Deutschland sogar zugenommen haben: Während zwischen 1990 und 2020 die Sympathie für Depressive leicht zunahm, wuchs die Angst vor Menschen mit der Diagnose Schizophrenie.
Braucht es mehr Aufklärung?
Die Autor:innen der zuletzt genannten Studie fordern, dass Anti-Stigma-Kampagnen viel stärker schwere psychische Erkrankungen in den Blick nehmen müssen, vor allem solche mit psychotischen Symptomen. Das RKI hält Informations-Kampagnen für notwendig, damit Menschen sich rechtzeitig Unterstützung suchen. Sie sollten, sagt das RKI, aber auch darüber aufklären, dass psychische Symptome als Teil „normalen“ Erlebens toleriert werden müssten und nicht immer behandlungsbedürftig seien.
Warum das?
Das Verständnis von psychischer Störung ist breiter geworden, wies der australische Wissenschaftler Nick Haslam schon 2016 nach. Das bedeutet, dass belastende Erfahrungen als „traumatisch“ bezeichnet werden, Traurigkeit als „Depression“. 2024 publizierte Haslam mit einer Kollegin eine Studie, die Hinweise darauf liefert, dass zunehmend Menschen aufgrund der verwässernden Begrifflichkeit professionelle Hilfe suchen, die keine brauchen. 2023 warnten Wissenschaftler:innen der Universität Oxford davor, dass die Angst vor psychischen Erkrankungen krank machen kann. Ein geringes Wissen über Mental Health ist sogar ein Schutzfaktor gegen Depressionen, zitiert eine RKI-Veröffentlichung aus einer australischen Studie.
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