Publikumsmagnet Musical: Die Gefühlsverstärker

Die Produzenten der Hamburger Musicals bringen Massen dazu, weite Reisen zu unternehmen und hohe Eintrittspreise zu bezahlen. Wie geht das?

Extra neu gebaut, aber ohne Seilbahn: die Halle, in der das Wunder von Bern gezeigt wird Bild: dpa

HAMBURG taz | Es spricht nichts dagegen, mit Kultur Geld zu verdienen. Es ist nur nicht so einfach: Ein Song oder ein Theaterstück ist etwas anderes als ein Glasfaserkabel, bei dem absehbar ist, ob es funktioniert. Es gibt keine Formel, nach der sich Hits produzieren lassen, weder in der Musik noch im Theater.

Trotzdem versuchen Unternehmen wie Stage Entertainment, Erfolg zu planen. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Holland produziert Musicals, bei denen es um viel Geld geht: In die neue Hamburger Show „Das Wunder von Bern“ investiert Stage Entertainment 15 Millionen Euro, „Rocky“ kostete ebenso viel und „Tarzan“ lag bei 18 Millionen Euro.

Produziert wird ein Stück erst, „wenn sich dessen Wirtschaftlichkeit binnen eines Jahres realistisch herstellen lässt“, sagte Geschäftsführerin Uschi Neuss der Wirtschaftswoche.

Geld wird verdient, weil die Stücke viel länger laufen als ein Jahr – die größte Cashcow ist der „König der Löwen“, der in Hamburg bereits im 13. Jahr läuft und bislang rund zehn Millionen Zuschauer angezogen hat. Möglich sind solche Zuschauerzahlen, weil diese Musicals en suite gespielt werden: Der „König der Löwen“ läuft jeden Tag außer montags. An Samstagen und Sonntagen gibt es jeweils zwei Vorstellungen.

Wenn es sich in einer Stadt ausgespielt hat, werden die Stücke in andere Städten exportiert: „Tarzan“ zog 2013 nach rund fünf Jahren von Hamburg nach Stuttgart. „Rocky“ versuchte es am Broadway in New York, während die Show in Hamburg weiterlief. Der „König der Löwen“ läuft in Hamburg, New York, London und Tokio.

Musicals sind wie Big Macs: Es gibt sie auf verschiedenen Kontinenten in identischer Form. Aber anders als Big Macs schmecken sie den Leuten nicht überall: „Rocky“ sollte die erste in Hamburg entwickelte Show sein, die es in New York schafft. Aber am Broadway wurde „Rocky“ nach fünf Monaten wieder abgesetzt – die Show floppte. In Hamburg dagegen läuft sie seit Ende 2012 erfolgreich.

Ebenfalls in New York gefloppt ist die Disney-Produktion „Tarzan“: Am Broadway lief das Musical nur 14 Monate und produzierte laut New York Times einen Verlust in Höhe von zwölf Millionen Dollar. Also verkaufte Disney die „Tarzan“-Lizenz an das Unternehmen Stage Entertainment, das das Stück nach Hamburg importierte. Dort lief es fünf Jahre und zog rund drei Millionen Zuschauer an.

Die New York Times konstatiert, dass Broadway-Flops in Hamburg „eine lukrative Auferstehung erfahren können, so lange sie das Spektakel und den Prunk bieten, die laut den Hamburger Theaterproduzenten das deutsche Publikum bezaubern“. Zugespitzt heißt das: Musicals, die vor allem als Materialschlacht konzipiert sind, langweilen das New Yorker Publikum, während sich in Hamburg damit Kasse machen lässt.

Die unterschiedlichen Ansprüche haben mit unterschiedlichen Rezeptionshaltungen zu tun: In Amerika gehören Musicals seit Jahrzehnten zum kulturellen Kanon. In Deutschland hingegen ist die Musical-Tradition schwach und die Erfahrungen des Publikums sind vergleichsweise gering.

Das erhöht die Chancen, dass sich das Publikum von Theaterdonner beeindrucken lässt, während die Amerikaner sich erstmal fragen, ob sie die Musik und die Geschichte mögen.

Tatsächlich hängt der Erfolg der Musicals wesentlich davon ab, ob sie als Gesprächsstoff taugen. Über ein Musical muss man reden können, und auch das ist nicht so einfach: Das Grundprinzip der Musicals ist, eine emotionale Geschichte zu erzählen und die Emotionen durch den Einsatz von Musik zu verstärken.

Gefühle und Musik sind aber zwei Dinge, die sich schwer in Worte fassen lassen. Also braucht jedes Musical einen Schauwert, der sich beschreiben lässt. Etwas Konkretes, das über die abstrakten Zutaten Musik und Gefühl hinausgeht. Etwas, das die Zuschauer im Prinzip schon kennen und im Musical in neuer Kombination erleben.

Bei „Tarzan“ besteht der Schauwert darin, dass sich die Darsteller an Leinen über den Zuschauerköpfen durch das Theater schwingen: „Tarzan“ ist zugleich eine Zirkusveranstaltung; bei „Rocky“ werden realistische Bühnenbilder maschinell im Schnellverfahren gewechselt und am Ende wird das Theater in eine Box-Arena verwandelt: „Rocky“ ist der Versuch, den Realismus und die Erzählprinzipien des Films auf die Bühne zu übersetzen.

Beim „König der Löwen“ geht es um die Darstellung der afrikanischen Tierwelt: Das Stück ist zugleich ein Puppentheater mit Puppen, deren Herstellungskosten mitunter 35.000 Euro betragen.

Auch auf der Ebene der Liedtexte versuchen die Musicals, Gefühle von der abstrakten auf eine konkrete Ebene zu holen. Tarzan sagt zu Jane nicht „Ich liebe dich“. Tarzan sagt: „Dir gehört mein Herz.“ Rocky sagt zu Adrian nicht „Ich mag dich, wie du bist“. Er sagt: „Ich bitte dich, sei Adrian, nur Adrian für mich.“

Weiter befeuert werden die Emotionen jenseits der Shows durch die Macher selbst, die keine Gelegenheit auslassen, ihre emotionale Involviertheit zu zeigen. Musical-Darsteller sprechen gerne davon, wie sie ihren Job mit „Haut und Haaren“ ausüben.

Selbst die Chefs engagieren sich: Zur Eröffnung des neuen Stage-Entertainment-Theaters an der Elbe gab es ein Feuerwerk, das sich der Konzernchef Joop van den Ende laut Abendblatt „in enger Umarmung“ mit seiner Frau und seiner Geschäftsführerin Uschi Neuss anschaute: „Es flossen sogar Tränen.“

Die Vorliebe der Musical-Macher für Filmstoffe mag auch daran liegen, dass diese Produktionen in jedem Fall Gesprächsstoff liefern beim Vergleich der jeweiligen Hauptdarsteller.

Wie nahe kam der Musical-Rocky dem Film-Rocky Sylvester Stallone? Ist „Dirty Dancing“ als Musical machbar, so ganz ohne Patrick Swayze? Musical-Fans können und werden solche Fragen diskutieren, weswegen Stage Entertainment bei Filmadaptionen international nach seinen Hauptdarstellern sucht.

Gelingt einem Musical die Kombination von Emotionen und einem „Darüber reden können“, dann lässt sich mit einem professionellen Marketing der Rest erledigen. Bereits der Pionier des Musicals in Hamburg, Friedrich Kurz, der 1986 „Cats“ an die Reeperbahn brachte, wusste, dass er große Werbeplakate braucht – er hing sie an die Küste, um Urlauber bei schlechtem Wetter nach Hamburg zu lotsen.

Stage Entertainment spielt da in einer anderen Liga. Aus dem Casting für „Tarzan“ machte das Unternehmen eine Sendung auf Sat1. Das Marketing geht Hand in Hand mit der Hamburg Tourismus GmbH, bei der die Musical-Reisepakete gleich auf der Startseite im Internet stehen.

Wie hoch der Marketing-Etat beim neuen Musical „Das Wunder von Bern“ ist, darüber möchte Stage Entertainment nichts sagen. Die Spots, Plakate, Postwurfsendungen und Anzeigen sind allgegenwärtig. Zudem gab es Anfang Oktober einen Gastauftritt bei „Wetten dass …?“ – mehr Marketing geht nicht.

Die Wucht der Werbung und das Mitreden-Können rechtfertigen für das Publikum die Anreise und die Eintrittspreise. Die liegen zum Beispiel bei „König der Löwen“ wochentags zwischen 60 und 130 Euro und am Wochenende zwischen 90 und 165 Euro.

Die hohen Preise sichern, dass die Darbietung schon als wertvoll wahrgenommen wird, bevor man sie überhaupt gesehen hat. In der Regel wird die Mundpropaganda positiv ausfallen. Niemand fährt gerne quer durch die Republik, bezahlt Hotelzimmer und Eintritt und erzählt zu Hause: „Es war langweilig.“

Mit dem neuen Musical „Das Wunder von Bern“ verlässt Stage Entertainment einmal mehr den Weg, andernorts produzierte Musicals zu übernehmen. Statt dessen produzieren die Holländer einen Stoff, der zutiefst deutsch ist: Das Musical basiert auf Sönke Wortmanns gleichnamigem Film, in dem ein emotional zerstörter Vater 1954 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt.

Der Vater reagiert seine Aggressionen an seiner Familie ab, was vor allem der neunjährige Sohn schwer aushält. Vor dem Hintergrund der Fußball-Weltmeisterschaft finden Vater und Sohn wieder zu einander. Im Endspiel gewinnt nicht nur Deutschland, sondern der Vater auch seinen Sohn zurück.

Den Film sahen bereits vier Millionen Zuschauer in den Kinos, Deutschland hat gerade wieder eine Weltmeisterschaft gewonnen, und Stage Entertainment hat für die Show ein neues Theater im Hamburger Hafen gebaut. Es sieht so aus, als könnte diese Show nicht floppen.

Gut möglich also, dass auch das „Wunder von Bern“ auf Reisen geht. New York als Zielort scheint ausgeschlossen: Europäische Fußball-Wunder wären wohl chancenlos im hart umkämpften amerikanischen Markt.

Könnte sein, dass das „Wunder von Bern“ die Currywurst unter den Big Macs wird: Die Stage Entertainment-Theater in Berlin, Oberhausen und Stuttgart stehen bereit. Nun aber erstmal Hamburg.

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