Re:Publica-Trend Snapchat: Digitale Glatzenüberkämmer

Die digitale Gesellschaftskonferenz hat ihr diesjähriges Lieblingsspielzeug gefunden: die App Snapchat. Pech für die Jugendlichen, die den Dienst mögen.

Ellen Degeneres nimmt vor einer Menschengruppe im Dunkeln ein Video mit Snapchat auf

Ganz schön tantig: Ellen Degeneres macht ein Snapchat-Video (Archivbild) Foto: ap

BERLIN taz | 10 Minuten lang erklärt Joshua Arntzen per Video, wie Snapchat funktioniert und wofür er es nutzt. 500 Menschen, die meisten mindestens doppelt so alt wie er, sitzen vor einem großen Bildschirm und schauen dem Schüler aus Hamburg dabei zu. „Es ist zwar schön, dass ihr jetzt alle wisst, was Snapchat ist. Aber benutzt es bitte trotzdem nicht“, sagt Arntzen zum Abschluss.

Und wiederholt damit einen Appell, den er auch schon im vergangenen Jahr an das Publikum auf Deutschlands größter Irgendwas-mit-Internet-Konferenz gerichtet hat. Facebook haben die Alten seiner Generation schon verleidet – weil plötzlich alles von Erwachsenem zugemüllt war, Eltern und Lehrer sich mit ihnen befreundeten und es vorbei war, mit der unbeobachteten Kommunikation mit Gleichaltrigen.

Im vergangenen Jahr wurde Arntzen mit seiner Bitte noch erhört. In diesem nicht. Snapchat, das ist in diesem Jahr der Lieblingsdienst auf der Re:Publica. Diesen chaotischen Foto-Chatnachrichtendienst mit eingebautem Selbstzerstörungsmechanismus für die Inhalte gibt es zwar schon seit 2011, aber es hat eine ganze Weile gedauert, bis klar wurde, dass das jetzt das neue Ding ist unter Jugendlichen. Der Dienst, wo sie sich versammeln.

Und weil die Gäste der Re:Publica darauf stehen, jedes Jahr einen neuen Dienst durch ihr Dorf zu jagen, ist dieses Jahr eben Snapchat dran. Der Gral für all die Vermarkter und Inhaltemacher, die spüren, wie die jungfrische Hipness auf Facebook langsam aber sicher austrocknet. Nicht nur Arntzen erklärt den Dienst. Auch ein Stockwerk weiter unten, am Stand der Re:Publica-Ausgründung TinCon für Teenager bieten Jugendliche auf einer Tafel ebenfalls Schulungen an. Es gibt Veranstaltungen für Ultra-Snapchatter und Tipps für Organisationen (und Werber), die Snapchat doch nutzen wollen.

Wer sich 2015 auf der Re:Publica nicht blamieren wollte, musste die Livestreaming-Apps Meerkat oder Periscope nutzen. In diesem Jahr ist es halt Snapchat. Wobei – ganz allein steht das natürlich nicht: schon seit einiger Zeit gibt es zahllose Videos im Netz, die Älteren den Dienst erklären wollen – oder sich mit jüngeren Familienangehörigen auf eine Art anthropologische Expedition auf Snapchat begeben.

Kahl? Egal!

Wir sind jetzt auch als "taz.kommune" auf Snapchat. Wie peinlich das werden kann? Mal sehen. Wir probieren das mal aus.

Digitale Glatzenüberkämmer – diesen Begriff hat Kathrin Passig bereits im Jahr 2009 erfunden, für Menschen, die noch immer an ihrem vor Jahren geprägten digitalen Weltbild festhalten, ohne zu bemerken, dass sich die Dinge seitdem rasant weiterentwickelt haben. Im Spiegel habe man selbst den Eindruck, alles sehe aus wie immer – aber alle anderen würden deutlich sehen, dass es eben doch nur drei über den Kahlkopf gelegte Haare seien, schrieb sie damals.

Zum 10. Mal findet die Re:Publica statt. Und die meisten Besucher wie die prägenden Köpfe sind ganz schön mitgealtert. Bauchansatz und Graumeliertes allerorten. Und doch wollen diese Menschen dranbleiben. Weil natürlich irgendwo steht, dass vom digitalen Marketing keine Ahnung habe, wer Snapchat nicht verstehe.

Und so hängen sie an den Lippen der Jugendlichen, die ihnen erklären, was sie denn da so machen, auf Snapchat. Was das soll. Wie das tickt. Denn: Wüssten sie es nur, dann wäre die digitale Glatze kaschiert, die Tatsache, dass sie halt einfach ein bisschen alt geworden sind. Und sie da vielleicht auch gar nichts zu suchen haben.

Und doch steht Arntzen, gerade aus der Schule heimgekehrt und per Skype zugeschaltet, geduldig Rede und Antwort für all die brennenden Fragen der erwachsenen und berufsjugendlichen Re:Publicaner. Die fragen, ob ihm das mit Snapchat nicht zu nervös sei. Wie Marken vielleicht doch an ihn rankommen könnten – damit er nicht ausschließlich seinen Freunden folge. Ob er es nicht gruselig fände, all seine Kommunikation über eine Firma zu organisieren.

Als könnten sie sich nicht selbst erinnern, wie damals die Alten immer über MTVs wirre kurze Schnitte gemeckert haben. Oder nicht selbst aus ihren jeweiligen Sozialen Netzwerken wüssten, wie ätzend es ist, wenn dort plötzlich all die Leute auch ankommen, die man eigentlich nicht dort sehen wollte.

Zack, weg mit dem Inhalt

Auf Zeit Online warnt Digitalredakteur Patrick Beuth, dass jetzt marodierende Horden Uncooler und Berufsnutzer ansetzen, den Jugendlichen auch noch Snapchat zu versauen. Beim Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen – bei der werberelevanten Zielgruppe. Ein bisschen lustig, schreibt Beuth, „in einem Netzwerk, das euch Aufmerksamkeitsspannen jenseits von ein paar Sekunden abtrainiert.“ Werber und Medien glaubten, „auf Snapchat könnten sie euch erreichen, auch wenn ihr Snapchat vielleicht nur nutzt, damit ihr für sie unerreichbar seid.“

Angucken, Unsinn machen, Faces swappen und zack, weg mit dem Inhalt. Das macht Sinn und Attraktivität von Snapchat aus. Sagt sogar Joshua Arntzen.

Weswegen es natürlich ein wenig tantig und onkelig ist, Witze darüber zu machen, dass man sich zu alt fühle für Snapchat. Das sei wie zu sagen, dass man keinen Fernseher habe, witzelt es unter dem Re:Publica-Hashtag auf Twitter – während andere Unternehmen und Medienhäuser fleißig verkünden, dass sie jetzt auch angefangen hätten.

Internet-Eminenz Sascha Lobo (40) konstruierte auf der Re:Publica mal wieder ein neues Wir. „Wir, die wir uns für eine digitale Avantgarde halten, weil wir noch viel früher als alle anderen Snapchat nicht verstanden haben“, sagte der Mann, der einst, in grauer Social-Media-Vorzeit der wahrscheinlich einflussreichste Twitterer Deutschlands war. Und wünscht sich ein Snapchat für Erwachsene.

In Würde altern, das kann halt nicht jeder.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.