Reaktion auf Verhaftungen in der Türkei: „Wie während der Nazi-Herrschaft“

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei ins Spiel gebracht. Deutschland sieht dazu derzeit keinen Anlass.

Ein Schild mit der Aufschrift "Lang lebe Cumhuriyet" befindet sich am Zaun der Zeitungsredaktion hinter dem ein bewaffneter Polizist Wache steht

„Lang lebe Cumhuriyet“: Ein Zeichen der Solidarität mit den verhafteten Journalisten am Eingang zur Redaktion Foto: dpa

ISTANBUL/BERLIN/WIEN dpa/epd/rtr | Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat die aktuellen Entwicklungen in der Türkei mit denen in der Nazi-Zeit verglichen. Zum Vorgehen gegen Regierungsgegner unter dem von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ausgerufenen Ausnahmezustand sagte Asselborn im Deutschlandfunk: „Das sind Methoden, das muss man unverblümt sagen, die während der Nazi-Herrschaft benutzt wurden.“

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Regierung in Ankara seien bereits jetzt „theoretisch“ ausgesetzt. Asselborn brachte am Montag zudem mögliche Wirtschaftssanktionen gegen Ankara ins Spiel.

„50 Prozent der Exporte der Türkei gehen in die Europäische Union“, sagte der Minister. „60 Prozent der Investitionen in die Türkei kommen aus der Europäischen Union. Das ist ein absolutes Druckmittel. Und in einem gewissen Moment kommen wir nicht daran vorbei, dieses Druckmittel einzusetzen, um die unsägliche Lage der Menschenrechte zu konterkarieren.“

Asselborn gab zu einem möglichen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen zu bedenken, „dass es Millionen Menschen in der Türkei gibt, die glauben, dass die einzige Hoffnung, um aus diesem Loch herauszukommen, die Europäische Union ist“.

Deutschland gegen Sanktionen

Deutschland unterstützt nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert die Überlegungen über EU-Sanktionen gegen die Türkei derzeit nicht. „Die Bundesregierung beteiligt sich jetzt nicht an einer Sanktionsdebatte“, sagte Seibert am Montag in Berlin. Nötig sei jetzt eine „klare und gemeinsame europäische Haltung“ zur Türkei. „Dafür ist es richtig, Gesprächskanäle offenzuhalten.“

So würden sich die EU-Botschafter heute mit dem türkischen Europaminister treffen. Dabei würde auch die Schicksale von in der Türkei Festgenommenen angesprochen. „Das ist der richtige Weg, um zu zeigen, wo die europäische Solidarität liegt, nämlich bei denen, die für einen pluralistischen und demokratischen Staat in der Türkei eintreten“, sagte Seibert. Sollte die Türkei die Todesstrafe wieder einführen, müssten die EU-Beitrittsgespräche beendet werden, fügte Seibert hinzu.

Der türkische EU-Minister Ömer Celik hat die Verhaftungswelle gegen Kritik verteidigt und sich jeden Vergleich mit der Nazi-Herrschaft verbeten. Das Vorgehen gegen Terrorverdächtige in der Türkei sei stattdessen mit dem „Kampf gegen die Nazis“ vergleichbar, sagte Celik am Montag nach dem Treffen mit EU-Botschaftern in Ankara. Mit Blick auf die in der Türkei inzwischen als „Fetö“ bezeichnete Gülen-Bewegung fügte er hinzu: „Neben der Fetö-Terrororganisation stehen die Nazis wie Lehrlinge da.“

Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Volker Bouffier (CDU) hat derweil angesichts der jüngsten Entwicklung eine strenge Haltung gegenüber Erdoğan gefordert. „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht lächerlich machen. Das was Erdoğan gegenüber Deutschland äußerte, ist absolut indiskutabel“, sagte Hessens Ministerpräsident am Montag vor dem Treffen des CDU-Präsidiums in Berlin. Erdoğan hatte Deutschland in der Vorwoche vorgeworfen, Terroristen Unterschlupf zu bieten, statt „rassistische Übergriffe gegen Türken“ zu verhindern.

Nach dem Vorgehen gegen Oppositionelle in der Türkei sieht Bouffier die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union unmittelbar vor dem Aus. „Es gibt Grenzen dessen, was man ertragen kann. Von daher kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass man mit Verhandlung weitermachen kann. Das wäre aus meiner Sicht das falsche Signal“, sagte Bouffier. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass Erdoğan-Gegner in der Türkei auf den Einfluss des Westens Westen hofften, damit „der Weg in die Diktatur nicht weitergeht“.

Dündar beklagt „Gestapo-Regime“

Für den Ex-Chefredakteur der unabhängigen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, steuert die Türkei auf ein „Gestapo-Regime“ hin. Das deutsche Volk müsse nur in seinen Geschichtsbüchern blättern, um zu verstehen, wohin sich die Türkei gerade entwickle, sagte Dündar dem Tagesspiegel.

Häuser von Andersdenkenden, Intellektuellen und Politikern würden gestürmt, ohne dass das türkische Parlament eingebunden werde. „Wissenschaftler werden aus Universitäten verbannt, Künstler verhaftet. Ihnen wird immer derselbe Vorwurf gemacht, am Ende ist es nur noch eine Hexenjagd“, sagte Dündar.

Dündar wurde im Mai in der Türkei wegen Spionage zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt. Im Juli floh er ins Ausland. Der mehrfach ausgezeichnete Journalist, der am Montag von Bundespräsident Joachim Gauck empfangen werden sollte, warf der EU und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) eine zögerliche Haltung gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vor.

Mit Blick auf die jüngsten Äußerungen von Regierungssprecher Steffen Seibert, dass die Situation in der Türkei alarmierend sei, erklärte Dündar: „Was bringt es jetzt noch von ‚alarmierend‘ zu sprechen, wenn das Haus nur noch Asche ist? Wir haben monatlang auf diese Reaktion der Bundeskanzlerin gewartet. Ich schrieb der Bundesregierung sogar einen Brief. Das war vor einem Jahr, als ich in der Türkei inhaftiert war.“

Weiterer HDP-Abgeordneter verhaftet

Die türkische Justiz hatte Ende vergangener Woche Haftbefehl gegen Dündars Nachfolger, Cumhuriyet-Chefredakteur Murat Sabuncu, und acht weitere führende Mitarbeiter erlassen. Sie wirft ihnen Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor sowie zur Bewegung des im US-Exil lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen vor.

Zudem wurden zahlreiche Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP festgenommen, zuletzt am Montag der Abgeordnete Nihat Akdoğan. Er sei in seinem Wahlkreis im südosttürkischen Hakkari in Gewahrsam gekommen, sagte Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmuş nach einer Kabinettssitzung am Montag in Ankara. Kurtulmuş verteidigte die jüngste Verhaftungswelle. Es handele sich um einen „zu hundert Prozent rechtmäßigen Vorgang“ der Justiz, in den sich die Politik nicht einmischen könne.

Akdoğan gehört zu 15 HDP-Abgeordneten, nach denen gefahndet wurde. Am Freitag war gegen die beiden Parteichefs Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie gegen sieben weitere HDP-Abgeordnete Untersuchungshaft verhängt worden. Drei Parlamentarier waren nach ihrer Festnahme am Freitag unter Auflagen wieder auf freien Fuß gesetzt worden.

Oppositionspartei CHP kritisiert Verhaftungen

Die größte türkische Oppositionspartei CHP hat die Verhaftung der HDP-Abgeordneten derweil als verfassungswidrig kritisiert und das Vorgehen der Berhörden gegen die Cumhuriyet als „politisch motiviert“, „illegal“ und „unfassbar“ bezeichnet. „Die Verhaftung von Abgeordneten noch vor Beendigung des juristischen Prozesses und vor einem endgültigen Urteil ist gegen die Verfassung und gegen die Rechtssprechung des Verfassungsgerichts“, hieß es am Montag in einer Erklärung der Mitte-Links-Partei. Teile der Partei hatten im Mai der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten zugestimmt.

Erdoğan am Sonntag deutlich gemacht, dass ihn Kritik aus dem Ausland nicht interessiere. „Es kümmert mich überhaupt gar nicht, ob sie mich einen Diktator oder Ähnliches nennen“, sagte er. „Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Wichtig ist, was mein Volk sagt.“

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