Reaktionen auf Vergewaltigung in Indien: Vergilbte und verstaubte Plakate

Nach dem Schock über die Massenvergewaltigung kehrt in Indien Ernüchterung ein. Die Gesellschaft verpasst es, über die Ursachen zu debattieren.

Die nächsten Männerblicke kommen bestimmt, bei der nächsten Metrofahrt. Bild: reuters

DELHI | Sorgfältig schaut sich die 24-jährige Medienwirtschaftsstudentin Monika Sharma auf dem Jantar-Mantar-Platz in der Nähe des indischen Parlaments in Delhi um. Sie beäugt dösende Hungerstreikende, lauscht einer Protestgruppe mit Megaphon und betrachtet die kleinen, mit Blumen und Ölkerzen verzierten Straßenaltäre aus Ziegelsteinen.

Der von gelben Polizeiabsperrungen umstellte und von alten Bäumen überschattete Platz ist für Demonstrationen rund um die Uhr freigegeben. Gewöhnlich treffen sich hier die ewigen Protestierer: Gewerkschaften, Bauern oder religiöse Gruppen mit speziellen Anliegen. Nun haben sich die Reste der neuen indischen Antivergewaltigungsbewegung hierhin zurückgezogen.

Ihretwegen ist Sharma gekommen. Sie trägt Jeans, einen grauen Sportpullover und eine rote Handtasche. Zwei Freunde von der Uni begleiten sie. Zum ersten Mal seit der tödlichen Vergewaltigung einer Medizinstudentin am 16. Dezember, die im ganzen Land Proteste auslöste, traut sich Sharma an diesem Tag hierher.

„Hängt die Vergewaltiger!“

Sie wohnt in Noida, einem Vorort Delhis, wo in den letzten Tagen eine weitere tödliche Vergewaltigung die Bewohner erzürnte. „Ich muss etwas für meine Schwestern, Kommilitoninnen und Nachbarinnen tun“, sagt Sharma.

Sie kommt etwas spät, die Proteste sind bereits wieder abgeebbt. Nur die Exzentrischen harren aus: Vor Sharma liegt der Bauer Babu Singh in staubigen Kleidern unter einem Stapel Decken. Er ist 40 Jahre alt, kommt aus einen kleinen Dorf und befindet sich seit elf Tagen im Hungerstreik. „Hängt die Vergewaltiger!“, lautet Singhs Forderung.

Sharma wendet sich irritiert ab. Auf dem Platz sind nur wenige Frauen. „Ich muss wohl wieder nach Hause gehen und dort mit meinem Protest anfangen“, überlegt sie. „Vielleicht kann ich die Männer in Zukunft davon abhalten, mir dumme Blicke zuzuwerfen.“ Nach der furchtbaren Vergewaltigung der Medizinstudentin, die die ganze Nation erschreckt zu haben schien, zieht mit dem Alltag auch die Ernüchterung ein.

Fünf Männer müssen sich derzeit vor einem Schnellgericht in Delhi für die Vergewaltigung und den Tod der Studentin verantworten.

Mindestens zwei der Angeklagten wollen auf nicht schuldig plädieren. Die Männer würden „sämtliche Anklagepunkte“ zurückweisen, sagte der Anwalt M. L. Sharma gegenüber AFP am Dienstag. „Es ist noch nichts bewiesen.“

Der Jurist kündigte an, den Umgang der Polizei mit Beweismitteln in Frage zu stellen. Der nächste Verhandlungstag ist für Donnerstag angesetzt.

Haben die Proteste etwas bewegt? Eine Weile war es ermutigend, morgens die Zeitungen aufzuschlagen. Sie zeigten Bilder von Demonstrantinnen, die alle jung und modern wie Sharma aussahen. Doch nun übernehmen wieder die alten Herren die Titelspalten.

Chor der Revisionisten

Heute führt der angesehene Guru Asaram Bapu den Chor der Revisionisten: Zu einer Vergewaltigung gehörten immer zwei, hat er tags zuvor seinen Anhängern gepredigt. Das Opfer hätte seine Vergewaltiger bei der Hand nehmen und sie als Brüder um Hilfe bitten müssen. „Das ist doch nur geistlose Eigenwerbung“, schimpft Sharma.

Es hilft nichts. Immer mehr indische Politiker setzen sich von dem vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens ab, der nach der schrecklichen Tat sinnfällig schien. Der Sohn des amtierenden Präsidenten, der Regierungsabgeordnete Abhijit Mukherjee, denunzierte die Demonstrantinnen als „flittchenhaft“.

Andere folgten ihm und warnten vor westlichem Lebensstil als dem tieferen Grund für Vergewaltigungen. Einige pflichteten einem gewählten Dorfrat im Bundesstaat Uttar Pradesh bei, der schon im letzten Sommer empfohlen hatte, Sex vor der Ehe grundsätzlich zu verbieten – als Vorbeugungsmaßnahme gegen Sexualverbrechen.

Es scheint, als hätten die vielen mutigen Frauen, die in den letzten Tagen laut zu vernehmen waren, vergeblich ihre Stimme erhoben. „Keine Ausreden für Sexualmissbrauch!“ steht auf einem gelben handgemalten Plakat auf dem Jankar-Mantar-Platz. „Macht die Opfer nicht zu Schuldigen!“ verlangt ein ähnliches Plakat.

Die Angst der Frauen

Jetzt liegen die Plakate im Staub der Straße und vergilben. Was bleibt, ist die Angst von Frauen, überhaupt auf die Straße zu gehen. Drei Wochen zögerte Sharma. „Ich war immer vorsichtig und werde es auch in Zukunft sein“, sagt sie. Das hört sich an, als ginge sie heute das erste und letzte Mal protestieren.

Tatsächlich gibt es viele gute Gründe, es nicht zu tun. Zum Beispiel die öffentlichen Verkehrsmittel: Für eine Demo braucht man sie, besonders wenn die Kundgebung wie üblich in der Nähe vom Parlament oder dem Triumphbogen India Gate stattfindet.

Doch die öffentlichen Verkehrsmittel gelten für Frauen grundsätzlich als unsicher. Sharma hätte es ohne ihre männliche Begleitung nicht gewagt, allein mit der Metro zu fahren.

Busse haben einen noch schlechteren Ruf – vor allem, seitdem das Opfer vom 16. Dezember einen privaten Linienbus bestieg und darin vergewaltigt wurde. Und ganz ungern setzten sich indische Frauen zu einem Rikscha- oder Taxifahrer: Da sind sie ja schon mit einem Mann allein.

„Unsere kollektive Angst macht die Stadt zu unserem Feind, den wir Frauen nicht zu provozieren wagen“, schreibt die Delhier Autorin Devika Bakshi in dem Magazin Open.

Das Versagen der Ordnungshüter

Nicht weniger groß ist die Angst der indischen Frauen vor der Polizei. Sie hilft nicht, sie macht alles noch schlimmer. „Ich glaube nicht, dass die Polizei sich ändert“, sagt Sharma. Jeder neue Fall scheint ihre Ängste zu bestätigen. Auch am 16. Dezember versagten die Ordnungshüter, ließen das nackte Opfer auf der Straße liegen, halfen ihr spontan nicht, sondern diskutierten ihre Zuständigkeit.

Ebenso versagten sie in Sharmas Nachbarschaft, in Noida, als sie am vergangenen Wochenende eine Anklage auf Vergewaltigung erst aufnahmen, als das Opfer später tot aufgefunden wurde. Fünf Polizisten in Noida wurden deshalb vom Dienst suspendiert.

Die Regierung hat nun beschlossen, dass in Delhi in Zukunft in jeder Polizeistation rund um die Uhr eine Polizistin Wache halten soll. Davon, diese Maßnahme aufs ganze Land auszuweiten, ist sie weit entfernt.

Genauso unsicher wirken die politischen Folgen. Premierminister Manmohan Singh hat jüngst eine Kommission eingesetzt, die Vorschläge für ein neues Gesetz über die Bestrafung von Sexualverbrechen annimmt. Die regierende Kongresspartei hat daraufhin auf ihren Vorschlag verzichtet, Vergewaltigungstäter chemisch kastrieren zu lassen. Und niemand drängt mehr auf eine außerordentliche Parlamentssitzung. Die Kommission soll das Thema offensichtlich aussitzen.

Umso schwieriger wird es, den eigentlichen Problemen auf den Grund zu gehen. Gewalt gegen Frauen beschränkt sich in Indien nicht auf Vergewaltigungen. In Delhi werden heute nur noch 866 Mädchen bei 1.000 Jungen geboren.

Immer mehr indische Familien treiben ihre Töchter ab, weil sie nur noch ein Kind haben wollen und ein Sohn Stammhalter sein muss. So verlor Indien seit den 90er Jahren mindestens 12 Millionen weiblichen Föten, berechneten kürzlich in den USA ansässige indische Forscher.

Doch nirgendwo in Indiens Öffentlichkeit wird dieses Problem bisher ernsthaft diskutiert – gleichwohl die Vergewaltigungsdebatte dafür jetzt Gelegenheit bot. Denn das Minus an Frauen durch die millionenhaften Abtreibungen wird zu einem dauerhaften Ungleichgewicht der Gesellschaft führen. Schon im Jahr 2020 droht Indien ein Überschuss von 30 Millionen Männern. Diese Frauenlosen aber sind die potenziellen Vergewaltiger der Zukunft.

Die Familienehre

Doch es gibt einen Familienstolz, der es bisher zum Tabu macht, die Hintergründe von Sexualverbrechen aufzudecken. Ein Beispiel dafür sind Väter, die ihre Töchter öffentlich verstoßen, weil sie vergewaltigt wurden, wie in einem jetzt vom TV-Sender CNN-IBN aufgedeckten Fall in der Delhier Vorstadt Faizarabad. Hier meinte der Vater, dass seine Tochter die Familie beschmutze, sie hätte abends nicht allein ausgehen und sich nicht westlich kleiden dürfen.

In solche Familienangelegenheiten aber wagen sich Politik und Öffentlichkeit in Indien bisher nicht einzumischen. Auch weil sich am grundsätzlichen Primat der Familie über die Lebensentscheidungen der Frau wenig geändert hat: Den Ehemann besorgen immer noch die Eltern, Liebesheiraten sind weiterhin die große Ausnahme und selbst gut ausgebildete Frauen bleiben nach der Heirat am Herd. Nur 30 Prozent aller indischen Akademikerinnen sind erwerbstätig. Zum Vergleich: In China sind es 70 Prozent.

Selbst die Forderung vieler Demonstrantinnen nach mehr Sicherheit für Frauen war deshalb zweischneidig. Sie könnte zu einer noch größeren Überwachung von Frauen führen, die im indischen Familienalltag ohnehin wenig Zeit für sich allein haben.

Die Autorin Bakshi empfiehlt den Frauen stattdessen, mehr Risiken einzugehen. „Dass eine Frau den Bus nimmt, sollte jetzt nicht als Dummheit gelten, sondern als Zeichen dafür, dass sie sich ihrer Angst widersetzt.“

Sharma bleibt ein solches Denken fremd. Umso enttäuschter ist sie jetzt. „Die Proteste waren toll. Aber es folgen aus ihnen keine Taten“, sagt sie. Vielleicht gelingt er ihr trotzdem, die nächsten dummen Männerblicke nicht nur leise, sondern mit lauter Empörung abzuwehren. Sie kommen bestimmt, bei der nächsten Metrofahrt.

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