Recherche für Stolpersteine: "Das hat uns sehr berührt"

Heute werden vier Stolpersteine in Zehlendorf verlegt. Zwei Schülerinnen erzählen, warum und mit welchem Aufwand sie die Geschichte der Opfer erforschten.

Diese Stolpersteine werden heute in Zehlendorf verlegt Bild: Michael Rohrmann

taz: Frau Appel, Frau Stasik, im Rahmen des Projekts Stolpersteine haben Sie sich intensiv mit der NS-Geschichte befasst und das Schicksal von vier jüdischen Bürgern recherchiert. Eigentlich heißt es immer, Ihre Generation habe wenig für die Vergangenheit übrig.

Ruth Appel: Es ist Schwachsinn zu sagen, dass uns Jugendliche die NS-Geschichte nicht interessiert. Sie ist wichtig: Die Schüler müssen sie genau verstehen. Aber das geht nicht, wenn alles in ein paar Monaten nur durch Bücher gepaukt wird. Das ist öde.

Frederice Stasik: Es sind auch Ereignisse, die unsere Familien betreffen. Jeder hat seinen Teil zu verarbeiten. Es ist eine allgegenwärtige Geschichte, in Berlin gibt es überall Spuren.

In diesem Fall haben die Spuren nach Zehlendorf geführt. Im Fischtal 28 wohnten Max und Susanne Gottschalk mit ihrem Sohn Gerhard sowie Manfred Prager. Wie kamen Sie auf die Idee, für die vier NS-Opfer Gedenksteine zu verlegen?

Stasik: Mit der Jugendarbeit unserer Kirche haben wir das ehemalige Frauen-KZ Ravensbrück besucht. Dort entstand die Idee, die Gedenkaktion zu starten.

Zwölf Jugendliche nahmen am "Projekt Stolpersteine" des Evangelischen Kirchenkreises Teltow-Zehlendorf teil, darunter Frederice Stasik und Ruth Appel. Appel, 16, besucht das katholische Canisius-Kolleg in Tiergarten. Frederice, 17, die Moser-Schule in Westend.

Die Idee der Gedenksteine stammt von dem Kölner Bildhauer Gunter Demnig. Seit 1995 verlegt er sie bundesweit. Im Jahr 2005 wurde in Zehlendorf eine Initiative gegründet. Bis heute wurden 90 Stolpersteine im Stadtteil Zehlendorf verlegt.

Heute findet die Verlegung der Stolpersteine für Max, Susanne und Gerhard Gottschalk sowie Manfred Prager vor dem Haus Im Fischtal 28 statt. Treffpunkt: 18.10 Uhr, U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, Ausgang Riemeisterstraße.

Und wie wurde entschieden, für wen die Steine sind?

Stasik: Wir hatten Listen von verschollenen und verschleppten Leuten, die in unserem Kirchenkreis wohnten. Dabei fiel uns der Name eines Mannes auf, der in unserem Alter war, als er deportiert wurde: Gerhard Gottschalk. Er wohnte bei seinen Eltern, die auch als Deportierte auf der Liste standen. So begannen wir vor einem Jahr mit der Recherche.

Appel: Wir haben in der Onlinedatenbank der israelischen Holocaustgedenkstätte Jad Vashem nach diesen Namen gesucht. Dort sind jüdische Gedenkbücher zusammengefasst, man kann Geburts- und Deportationsdaten herausfinden. Dann haben wir Schulen und Synagogen in Berlin angeschrieben, um mehr über die Gottschalks zu erfahren. Oft haben die Schulen aber keine Archive mehr. So sind wir zum Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam gefahren, wo wir die Vermögensauflistungen der Gottschalks gefunden haben.

Mehr nicht?

Appel: Leider. Keine Verwandten, keine Fotografien. Wir wissen nichts über ihre Persönlichkeit. Es ist uns klar geworden, dass die Nazis geplant hatten, ihr Leben auszulöschen.

Stasik: Das war das Grausamste. Zu den Unterlagen gehörten Zettel, auf denen stand, wann sie deportiert wurden, aber auch, wie viele Socken und Kleider sie hatten.

Das hat Sie berührt?

Stasik: Ja, sehr. Wenn man versucht, ein Leben wiederaufleben zu lassen, kommt man diesen Menschen näher. Dann sieht man in diesen Dokumenten, wie abwertend die Sprache gegenüber ihnen war. In einem Dokument fordert ein Vermieter, dass "die Wohnung von Ungeziefer gereinigt werden soll". Das berührt schon. Nach dem Besuch im Archiv war die Stimmung sehr gedrückt.

Appel: Wir wussten nicht, was wir im Archiv finden würden. Und dann liest man Dokumenten, in denen so nüchtern über Menschen entschieden wird, als ob sie, ja, wie Insekten zu beseitigen wären. Nachher versteht man ein bisschen besser, in welcher Stimmung die Opfer gelebt haben. Über den anderen Hausbewohner, Manfred Prager, haben wir gar nichts gefunden. Wir wissen nur, dass er deportiert wurde.

War die Recherche eine sinnvolle Art, junge Menschen für die Geschichte des Nationalsozialismus zu interessieren?

Appel: In den Schulbüchern stehen Daten und Zahlen wie die sechs Millionen Opfer. Aber mit Einzelschicksalen vor Augen, wie der Geschichte von jemandem, der hier um die Ecke wohnte, kriegt man einen anderen Eindruck. Ich glaube, viele Schüler hätten Lust, etwas aktiv zu machen.

Stasik: Da wird aus einem Geschehen ein Mensch, der gelebt und gelitten hat. Man sieht sein Geburtsdatum, seine Unterschriften in den Akten, und vor allem sieht man, was danach kam. Zum Beispiel, wie die Wohnungen weitergegeben worden sind.

Das Haus Im Fischtal 28 steht noch?

Appel: Ja. Wir haben mit den heutigen Mietern gesprochen. Sie waren erschrocken, weil man gar nichts von der Geschichte dieser Menschen mitbekommt. Hoffentlich kommen sie zur Verlegung der Steine. Das ist ja das Ziel des Projekts, dass Leute nicht vergessen werden.

Bekommen denn Stolpersteine genug Aufmerksamkeit?

Appel: Ehrlich gesagt wusste ich vorher selber nicht so richtig, wofür sie da sind. So geht es, glaube ich, vielen. Ich habe manchmal Leute gesehen, die auf dem Stolperstein mit dem Fuß rieben, und habe mich gefragt, was die da machen. Jetzt weiß ich, dass so der Stein geputzt wird.

Stasik: Wenn ein Stein dreckig ist, zeigt das, dass nicht so viele Leute darauf achten. Mir ist aufgefallen, dass in den Hackeschen Höfen trotz der vielen Menschen die Stolpersteine schmutzig sind. Also gehe ich davon aus, dass viele gar nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.

Appel: Schlimmer ist, was uns ein Koordinator des Projekts erzählt hat: dass manche Leute keine Stolpersteine vor ihren Häusern wollen. Sie wollen nicht daran erinnert werden, dass da jemand deportiert und ermordet wurde. Das zeigt, dass die Erinnerung nicht so selbstverständlich ist. Aber wir arbeiten daran.

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