Rechte Splitterparteien siegen bei EU-Wahl: Ein Haus voller Narren

Nicht Konservative oder Grüne sind die wirklichen Sieger, sondern die "Sonstigen" - und die stehen zumeist rechts.

EU-Parlament in Straßburg. Bild: dpa

BRÜSSEL taz | Eigentlich hätte Hans-Gert Pöttering in der Wahlnacht strahlender Laune sein müssen. Schließlich geht die Europäische Volkspartei des CDU-Politikers mit europaweit 36 Prozent der Stimmen als Sieger aus dieser Europawahl hervor.

Doch die Frage eines schwedischen Reporters traf den Präsidenten des EU-Parlaments an einer sehr empfindlichen Stelle: Wie weit die Wahlbeteiligung noch sinken müsse, bevor das EU-Parlament wieder dazu übergehe, nationale Delegationen nach Brüssel zu entsenden, wollte der Journalist wissen. 57 Prozent der Wahlberechtigten waren nämlich zu Hause geblieben, noch einmal zwei Prozent mehr als vor fünf Jahren.

"Abgeordnete, Parteien und Medien - dazu gehört auch der Fragesteller selber - müssen sich überlegen, wie sie die Wahlbeteiligung verbessern können", antwortete Pöttering spitz. Martin Schulz, dem Fraktionschef der Sozialisten, hatte es gleich ganz die Sprache verschlagen.

Doch sein fassungsloser Gesichtsausdruck war Kommentar genug. Er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass seine Sozialdemokratische Partei Europas so drastisch einbrechen könnte. Etwa 163 Sitze wird die SPE im neuen Parlament einnehmen, bislang waren es 215.

Ein " sehr stark von innenpolitischen Überlegungen der Wähler" geprägter Wahlkampf sei an der geringen Wahlbeteiligung schuld, rang sich Schulz schließlich doch als Erklärung ab. Beide Politiker wünschen sich zwar ein größeres Gewicht europäischer Themen. Doch in der Wahlnacht zog es sie nicht zur Wahlparty in Brüssel, sondern zur heimischen Innenpolitik nach Berlin.

Mit drei neuen Strategien will Graham Watson, der Chef der liberalen Fraktion, das Interesse der Europäer an ihrem Parlament wachrütteln: Der Nachrichtenkanal Euronews soll in möglichst vielen Mitgliedsstaaten zum öffentlich-rechtlichen Sender aufgewertet werden. Bei der nächsten Wahl soll außerdem ein Teil der Abgeordneten auf europaweiten Listen kandidieren. Schließlich sollen die EU-Kommissare aus den Reihen der Abgeordneten kommen.

Bevor diese Ideen für eine stärker integrierten Union wahr werden können, wird Europa nach diesem Ergebnis durch eine Phase stärkerer Nationalisierung gehen. Denn die Sieger sind nicht die Konservativen und die Liberalen, die sich halbwegs behaupten konnten, oder die Grünen, die kräftig zulegten. Verdreifacht hat sich die Gruppe der "Sonstigen", die im scheidenden Parlament zu wenig Gemeinsamkeiten aufbrachten, um eine eigene Fraktion zu bilden.

Das könnte sich nun ändern. In Dänemark, Finnland, Italien und den Niederlanden verzeichneten ausländerfeindliche Parteien starken Zuwachs. In Ungarn, Rumänien und Bulgarien siegten Rechtsextremisten und EU-Gegner. Auch zwei britische Rechtsextreme sitzen erstmals im EP. Rein rechnerisch könnte dieses Gemisch für eine rechtsextreme Fraktion ausreichen.

In Österreich legte die antieuropäische Partei von Hans-Peter Martin zu. In Großbritannien wurde die Unabhängigkeitspartei UKIP, die auf eine Loslösung der Insel von der EU hinarbeitet, zweitstärkste Kraft. Beide Gruppen haben in den vergangenen fünf Jahren gezeigt, dass sie durch Geschäftsordnungsanträge und lärmende Missachtung des Sitzungsleiters das Hohe Haus ad absurdum führen wollen. Das dürfte ihnen nun in ihrer größer gewordenen Gruppe noch besser gelingen.

Auch die Umsetzung des Lissabon-Vertrags könnte sich durch das Wahlergebnis in Großbritannien weiter verzögern. Falls es dort vorgezogene nationale Neuwahlen gibt und die Konservativen erwartungsgemäß gewinnen, will Parteichef David Cameron ein Referendum über den Lissabon-Vertrag abhalten. Graham Watson nannte diesen Plan gestern "unverantwortlich gegenüber den europäischen Nachbarn und Partnern. Ich hoffe, dass sie ihren Verstand wiederfinden."

Mit oder ohne Lissabon-Vertrag wird sich nun das Personalkarussell in Brüssel und Straßburg drehen. Watson möchte Parlamentspräsident werden und als Gegenleistung Manuel Barroso als alten und neuen Kommissionspräsidenten unterstützen. Der konservative Fraktionschef Joseph Daul möchte Barroso bereits bei der konstituierenden Parlamentssitzung am 14. Juli wählen lassen.

Die Liberalen möchten bis zum Herbst warten, bis vielleicht der reformierte EU-Vertrag in Kraft ist. Grüne und Sozialisten stricken an einer Oppositionsmehrheit, die Barroso verhindern soll. Und alle Proeuropäer warten nervös, welche Überraschungen die über 100 Faschisten, Ultranationalisten und Antieuropäer ihnen noch bereiten werden.

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