Rechtsruck französischer Intellektueller: Denken für die nationale Sache

In Frankreich wird rechtes Gedankengut wieder salonfähig. Das ist alarmierend, belebt aber auch den politischen Diskurs.

Sitzende Menschen blicken in dieselbe Richtung, eine französische Flagge weht mittendrin

Das Nationale wird als das Verbindende wahrgenommen Foto: reuters

PARIS taz | Es sind gut zwanzig Leute, meist Männer, die an diesem Abend in einem italienischen Restaurant im Pariser 5. Arrondissement sitzen. Unter ihnen ein Buchhändler, junge Journalisten, ein pensionierter Bürgermeister aus der Provinz. Sie sind gekommen, um einen Vortrag von François Bousquet anzuhören. Der stellvertretende Chefredakteur der Zeitschrift Éléments, in den 70er Jahren Leitorgan der Neuen Rechten, sinniert über Antonio Gramsci, Carl Schmitt und die Definition der Souveränität.

Schnell entfernt sich die Diskussion von der Theorie und schwenkt auf den Wahlkampf ein. „Wir bräuchten einen kleinen Terroranschlag, damit Le Pen gewinnt“, wirft ein gut aussehender Mann in den Raum. Niemand scheint schockiert zu sein. Der Ton ist harsch, hemmungslos, offen.

Im Quartier Latin, Studentenviertel und Hochburg der französischen Intelligenz, ist rechtes Gedankengut kein Tabu mehr. Die zweite Blüte, die Éléments gerade erlebt, ist ein Indiz dafür. Während Bousquet und seine Gäste bei Wein und Antipasti über die bevorstehenden Wahlen diskutieren, wirbt andernorts der Gründer der Zeitschrift Alain de Benoist für sein neues Buch, „Das populistische Moment“.

Der Autor, dessen Schriften auf Deutsch im Verlag der Jungen Freiheit erscheinen, ist in Frankreich wieder salonfähig. Seine Weitsicht wird gelobt. Etablierte Kollegen attestieren ihm einen erfrischenden „Antikonformismus“ und manche wie Marcel Gauchet schmücken sogar die Titelseite seines Blatts, ohne sich schlecht fühlen zu müssen.

Mehr noch als die Auferstehung alter rechter Geister ist Folgendes an der Seine zu beobachten: Manche Publizisten, die früher links einzuordnen waren, fordern den Schutz der nationalen Identität oder prangern die linksliberale Elite an. Alain Finkielkraut, Pascal Bruckner und Michel Onfray gehören dazu. Finkielkraut und Bruckner waren einst in der 68er Bewegung engagiert. Onfray bezeichnet sich selbst als Erbe des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon. Doch in ihren letzten Büchern tauchen typische Argumente der Rechtspopulisten auf: Kulturpessimismus, Islamkritik, Antisystemhaltung, Linksschelte und Plädoyer für den „weißen Mann“ und das Volk „von unten“.

Abscheu gegen die „Fortschritts­ideologie“

Auch bei weniger bekannten Autoren und jüngeren Genera­tio­nen schwingt das Ideenpendel nach rechts. Der Philosoph Jean-Claude Michéa ist zum Guru der Gründer von Limite oder Philitt geworden – Zeitschriften, die im Zuge der Proteste gegen die Homo-Ehe 2013 entstanden. Michéa und die „mi­chéistes“ – die meisten sind keine 30 Jahre alt – teilen einen Abscheu gegen die „Fortschritts­ideologie“ des Liberalismus und plädieren für eine Neuentdeckung der politischen Werke des britischen Schriftstellers George Orwell – für sie Vorbild eines erstrebenswerten „Anar­cho-Konservatismus“.

Rechtsruck, neoreaktionärer Diskurs, Neokonservatismus – unterschiedliche Begriffe taugen zur Beschreibung des ak­tuel­len Zeitgeists in Frankreich. Je nach Definition und Kriterien gehören verschiedene Autoren zum Kreis der Verdächtigen – Provokateure oder Etablierte, Bestsellerautoren oder Außenseiter, Uni-Professoren oder Medienmacher.

Alle tragen zur Konjunktur bestimmter Thesen bei: Anstatt sich um Minderheiten zu kümmern, sollte man die „wahre“ französische Identität verteidigen – gegen den Kulturrelativismus, den Multikulturalismus und die Globalisierung. Über Inhalte hinaus findet man wiederkehrende Argumentationsmuster. Das sollte man doch sagen dürfen! – lautet ein übliches Argument dieser Denker, die sich in Sarrazin-Manier gern als Märtyrer der politischen Korrektheit aufspielen.

In Frankreich wird gewählt. Für Europa geht es um viel. Die taz.am wochenende vom 22./23. April setzt auf europäische Freundschaft – und hat die KollegInnen der französischen Libération eingeladen, die Zeitung mitzugestalten. Außerdem: Smartphones im Unterricht? Da kriegen manche Lehrer Ausschlag. Aber ist es vielleicht trotzdem die Zukunft? Ein Gespräch mit Schauspieler Tom Schilling über Krawatten und Mitte-30-Sein. Und: Philipp Maußhardt vereint die englische und die spanische Küche. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Von einer vollständigen Eroberung der Pariser Salons durch die Rechten zu reden, wäre übertrieben. Es gibt sie noch, die linke Geisteselite, die sich nach dem Vorbild Jean-Paul Sartres oder Pierre Bourdieus in die Politik einmischt. Trotzdem hat sich etwas verändert: „Als früher von In­tel­lek­tuel­len die Rede war, ging es implizit um linke Intellektuelle“, erläutert Nicolas Truong, Leiter des Ressorts Meinung und Debatte bei der Tageszeitung Le Monde.

Heute sei es „nicht mehr ganz so einfach“. Man kann sich davon ein Bild machen, indem man Élé­ments liest, aber auch Publikumszeitschriften wie Valeurs actuelles oder Causeur. Im Internet sind Boulevard Voltaire des Journalisten Robert Ménard und der Blog des Figaro-Kolumnisten Ivan Rioufol maßgebend.

Ein Sieg im Kampf um die Ideen, der für die politische Zukunft Frankreichs nichts Gutes verspricht? Rechtes Gedankengut hat im Nachbarland einige Tradition. Angst vor Dekadenz und Ausländerfeindlichkeit waren schon in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts zentrale Themen in der Zeitschrift L’Action Française des katholischen Schriftstellers Charles Maurras.

Frühe Vorwarnung

Auch der Vorwurf des Rechtsrucks wurde schon in der Vergangenheit erhoben: gegen die sogenannten neuen Philosophen wie Bernard-Henri Lévy oder André Glucksmann, die Ende der 70er Jahren die Flagge des Antitotalitarismus hochhielten; und gegen diejenigen, die nach dem 11. September 2001 die amerikanische Außenpolitik unterstützten.

2002 veröffentlichte der Essayist Daniel Lindenberg ein Pamphlet mit dem Titel „Der Ordnungsruf. Eine Studie über die neuen Reaktionären“. Wenige Monate zuvor stand Jean-Marie Le Pen überraschend in der Stichwahl zum Amt des Staatschefs gegen Jacques Chirac. 2016 wurde Lindenbergs Buch neu aufgelegt – mit dem Hinweis des Verlegers: „eine Vorwarnung“.

Jenseits von Déjà-vus ist es schwierig, eine Verbindung zwischen dem aktuellen Zeitgeist in Frankreich und dem Aufstieg des Front National (FN) herzustellen. Der FN pflegt sein Image als volksnahe und anti­eli­tä­re Partei. Marine Le Pen und ihre Getreuen freuen sich zwar über die ­theoretische Untermauerung des eigenen Programms zum Euro oder zur Einwanderung. Sie wollen sich aber nicht allzu oft mit ­Uniprofessoren oder Intellektuellen in der Öffentlichkeit zeigen. Deren Legitimation braucht der Front National nicht: Trotz bemerkenswerter Fortschritte im Studentenmilieu punkten die Rechtspopulisten vor allem bei Wählern mit niedrigem Bildungsniveau.

Das heißt nicht, dass der Rechts­ruck in der französischen Geisteselite keine Bedeutung hätte – als Symptom einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die in Büchern, aber auch bei Wahlen zutage tritt.

„Rechte Werte sind auf dem Vormarsch“, meint Nicolas Truong. „Momentan gibt es in Frankreich ein Bedürfnis nach Macht und Autorität“, bestätigt der Politikwissenschaftler Jean-Yves Camus, Leiter der „Beobachtungsstelle für politische Radikalitäten“. Offen bleibt, ob Intellektuelle dieses Verlangen bloß widerspiegeln oder auch anstiften.

Intellektuelle bleiben Ideenlieferanten

Die Verbreitung bestimmter Thesen mag alarmierend sein. Sie mag aber auch etwas Gutes bewirken: die Befreiung des politischen Diskurses von bisher für selbstverständlich gehaltenen Zwängen. Damit ist weniger die Überwindung des Links-rechts-Schemas gemeint – ein Leitmotiv rechter und neo­reak­tionärer Intellektueller – als vielmehr das Ende einer ideologischen Hegemonie, die Linke in den Schlaf der Gerechten versetzte.

Für Nicolas Truong hatte die Enttabuisierung einen positiven Weckruf-Effekt: „Wir dachten, wir seien am Ende der Geschichte angelangt. Aber es gibt Fragen, die gestellt werden müssen. Sonst werden wir immer wieder aufs Neue staunen: Brexit? Trump? Warum denn bloß?“ Der Journalist freut sich über eine „Wiederentdeckung der Politik“ und über „beunruhigende, zugleich sehr anregende Debatten“.

So sind die französischen Intellektuellen, deren Tod man in regelmäßigen Abständen verkündet, noch lange nicht verstummt. Emmanuel Macron wurde als Assistent von Paul Ri­cœur porträtiert. Der Kandidat von En Marche! stand dem Philosophen als Lektor zur Seite.

Sein Gegner Benoît Hamon holte den Ökonomen Thomas Piketty in sein Team, und Alain Finkielkraut verteidigte François Fillon als Justizopfer. Über Inszenierungen und Parteistrategien hinaus spielen die Intellektuellen an der Seine weiter eine Rolle als Ideenlieferanten in der politischen Debatte – auch in Zeiten von Twitter, Storytelling und Denkfabriken.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.