Rechtsstaat und Rechtsterrorismus: "Die machten bloß große Augen"

Wo steht der Staat? Jahrelang haben die Behörden gegen Nazis nicht richtig ermittelt. Bernd Wagner und Andres Veiel diskutierten in der Berliner Akademie der Künste.

Teilnehmer einer Menschenkette gegen Rechtsextremismus halten Schilder mit Bildern der Mordopfer. Bild: dapd

Bernd Wagner ist ein Kenner der rechtsextremen Szene Deutschlands. 1955 in Frankfurt/Oder geboren, war er bereits Kriminaler in der DDR. Gegen Ende des Arbeiter- und Bauernstaates leitete er die AG "Skinhead" und war an die Spitze der Abteilung Extremismus/Terrorismus im Zentralen Kriminalamt der DDR gerückt.

Am Donnerstagabend erinnerte er in der Akademie der Künste in Berlin an die Zeit des Umbruchs, die Jahre 1989/90. Auch an den von ihm verfassten Lagebericht zum Rechtsextremismus im Juni 1990, den er der neuen polizeilichen Führung hat vortragen lassen.

Wagner glaubte zu wissen, was sich mit der aggressiv vorgetragenen völkischen Vereinigungsideologie im Osten anbahnte. Doch sein dramatischer Befund wurde 1990 nicht einmal zu Protokoll genommen, sagt er. "Die machten bloß große Augen", so Wagner. Die Beamten aus dem Westen wollten keine störenden Misstöne haben. Das war Vorgabe der Politik.

Die Regierung Kohl wollte der Welt damals das Bild eines harmlos und friedfertig vereinigten Deutschland darbieten. Und auf der anderen Seite meinten viele der alten Ost-Kollegen Wagners: Wie bitte schön, soll aus einem antifaschistischen Staat, eine wie von Wagner festgestellte Naziszene entstehen? Wagners Warnungen vor der sich anbahnenden Gewaltwelle wurden vom Tisch gewischt.

Der Kriminalist verließ den Dienst und beriet in der Folge antifaschistische Privatinitiativen, aber auch Regierungsstellen. Mit dem bekannten Neonazi-Aussteiger Ingo Hasselbach aus Ostberlin gründete er die Intiative Exit Deutschland. Sie hilft bisherigen Nazis, sich vor ihren alten Kameraden zu schützen und ein neues Leben aufzubauen.

Gefährliche Dienste

Erst 1998 mit der Regierung Schröder, so Wagner, habe eine überfällige Korrektur der polizeilichen Lagebewertung stattgefunden. Zu spät und in nicht ausreichender Weise wie nun heute auch Angela Merkels CDU weiss.

1998 tauchten die drei bombenbastelnden Mitglieder der Jenaer Naziszene vor den Augen des Verfassungsschutzes unbehelligt ab. Sie gründeten die NSU und ermordeten mit Hilfe von Gesinnungsgenossen acht Migranten mit türkischen und kurdischen Hintergrund, einen mit griechischen, sowie eine Polizistin, die aus der Region des Täterkreises stammt.

Wie kann es sein, dass der Verfassungsschutz die Szene anscheinend genau kannte, aber nichts unternahm? Der Regisseur Andres Veiel ("Der Kick", "Wer wenn nicht wir") sprach im Zusammenhang des immer größer bekannt werdenden Teils der Ermittlungspannen von einer wohl ideologisch motivierten Nachlässigkeit. Bei den jetzigen Ermittlungen frage er sich immer wieder: "Wer kontrolliert eigentlich den Verfassungsschutz?"

Er verwies auf augenfällige Ungereimtheiten. So stellte die NSU das Migranten-Töten ein, als nach dem Mord an Halit Y. am 6.April 2006 in Kassel ein hessischer Verfassungsschützer vernommen wurde. Er soll eine rechte Gesinnung haben, leugnete zunächst seine Anwesenheit zur Tatzeit am Tatort. Und was folgt daraus? Bislang nichts.

Der letzte der NSU zugeordnete Mord war der an der Polizistin Michèle Kiesewetter am 25.April 2007 in Heilbronn. Purer Zufall, dass sie aus der Region des Täterkreises stammte? Oder wusste sie etwas, was sie nicht wissen durfte? Die Behörden rücken auch hierzu bislang kaum Brauchbares heraus.

Einen Perspektivwechsel der Politik mahnte Uwe-Karsten Heye an diesem Abend in Berlin an. Er ist Vorstandsvorsitzender des Vereins "GesichtZeigen! Für ein weltoffenes Deutschland", war Staatssekretär in der Regierung Schröder. Es könne nicht sein, so Heye, dass die Arbeit gegen Linksextremismus erleichtert, die von Antifaschisten behördlich erschwert würde.

Zivilcourage können Beamten zwar auch zeigen, wenn sie Neonazis wegen Trunkenheit am Steuer anzeigten. Doch gezielte Repression im größeren Maßstab und ein NPD-Verbot hält Bernd Wagner für das Gebot der Stunde. Damit der demokratische Staat seine repressiven Fähigkeiten gegen Rechts vollständig ausschöpfe, bedürfe es jedoch einer geänderten Lagebetrachtung. Untersuchungsausschuß und Sonderermittler müssten die Vorgänge um die NSU restlos aufklären.

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