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Reformen in der SozialpolitikNach unten treten, zum Glück tragen

Nach den Beschlüssen der Koalition zum Bürgergeld gehen die Bewertungen von Prak­ti­ke­r*in­nen auseinander. Rechtlich sind die Pläne problematisch.

Nach dem Koalitionsausschuss im Kanzleramt: Union und SPD einigen sich auf soziale Kälte Foto: Stefan Boness/Ipon

Helena Steinhaus kann sich nicht entscheiden. Welche der Verschärfungen, die die schwarz-rote Koalition beim Bürgergeld plant, wird die größten Auswirkungen haben? „Es ist insgesamt eine Katastrophe“, sagt die Aktivistin, die mit ihrem Verein Sanktionsfrei Bürgergeld-Empfänger*innen unterstützt – und ihnen aus einem Spendentopf aushilft, wenn das Amt nicht zahlt.

Die Nachfrage danach könnte im nächsten Jahr steigen: In der Nacht auf Donnerstag haben sich die Spitzen von Union und SPD auf Änderungen bei der Grundsicherung verständigt. Detailfragen sind zwar weiterhin offen. In der Tendenz ist aber klar: Es wird härter, nicht zuletzt bei den Sanktionen.

Bei Regelverstößen sollen in Zukunft schneller 30 Prozent der Regelbedarfe gestrichen werden – bei einem Erwachsenen also 169 Euro von 563 Euro. Bislang geht es stufenweise hoch, beginnend bei 10 Prozent. Wer eine Arbeitsstelle ablehnt, verliert in Zukunft möglicherweise auf Anhieb den kompletten Regelsatz – so lässt es sich zumindest aus dem Beschluss des Koalitionsausschusses herauslesen. Im Wiederholungsfall könnten auch die Unterkunftskosten gestrichen werden – so hat es zumindest der Kanzler gesagt. Erscheint jemand mehrmals ohne akzeptierte Entschuldigung nicht zu Terminen, werden ebenfalls alle Leistungen eingestellt, einschließlich der Miete. Vielleicht fallen sie komplett weg, vielleicht werden sie nur eingefroren – auch dazu fehlen eindeutigen Angaben.

Als „super krass“ bezeichnet Helena Steinhaus die geplanten Strafen für Terminversäumnisse. Was sagt sie zu dem verbreiteten Bauchgefühl, man könne von Emp­fän­ge­r*in­nen staatlicher Leistungen erwarten, im Jobcenter zu erscheinen? „Ich verstehe, dass das bei vielen der erste Gedanke ist“, sagt sie. „In der Realität geht es aber häufig um Menschen, die aus verschiedenen Gründen große Schwierigkeiten haben, mit ihrem Leben zurechtzukommen. Oft sind Leute zu den vorgeschriebenen Zeiten auch verhindert – oder in den Jobcentern gehen Absagen verloren.“ Und selbst wenn jemand ohne guten Grund Regeln breche: „Gibt uns das das Recht, Leute auf die Straße zu setzen? Und geht es uns dann besser?“

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Wollen keine Notlagen herbeiführen

Anders fällt die Bewertung der Pläne naturgemäß aus, wenn man auf der Seite der Jobcenter nachfragt. Dirk Heyden ist Geschäftsführer des Jobcenters Hamburg. Für ihn sind „alle diejenigen Änderungen hilfreich, die die Verbindlichkeit im gegenseitigen Handeln zwischen Kundinnen und Kunden sowie dem Jobcenter stärken“. Er begrüße auch alle Maßnahmen, „die dazu beitragen, dass auch die Kundinnen und Kunden, die sich bisher entziehen, wieder zur Beratung ins Jobcenter kommen“. Man habe ein „großes Portfolio an Unterstützungsmöglichkeiten“, aber könne es nur anwenden, „wenn Menschen mit uns zusammenarbeiten“.

Zumindest in einem Punkt ist Heyden trotzdem nicht unendlich weit weg von Helena Steinhaus: „Es ist ganz sicher nicht in unserem Interesse, Notlagen herbeizuführen“, sagt der Behördenleiter. Bei den offenen Fragen zu Komplettsanktionen pocht er nicht auf maximale Härte. „Wir wünschen uns eine pragmatische Lösung: Bei fehlender Mitwirkung sollte die Leistung durch das Jobcenter kurzfristig pausiert werden können.“ Melde sich die Person wieder und komme ihren Mitwirkungspflichten nach, solle die Zahlung wieder aufgenommen werden – „auch rückwirkend“.

Dieses Detail könnte auch eine Rolle spielen, wenn irgendwann das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit der Neuregelung bewertet. Schon 2019 hatte es Hürden für Sanktionen aufgestellt. Zum einen, so Rechtswissenschaftlerin Andrea Kießling, haben die Rich­te­r*in­nen die Eignung von Sanktionen angezweifelt, bei denen Obdachlosigkeit droht. „Aus der Wohnungslosigkeit heraus wird die Vermittlung in Arbeit nicht leichter werden. Gerade der geplante Wegfall von Leistungen für Unterkunft und Heizung scheint mir deswegen verfassungswidrig zu sein“, sagt Kießling.

Regierung soll Studien vorlegen

Zum anderen kippte das Gericht Kürzungen von mehr als 30 Prozent der Regelsätze sinngemäß mit dem Argument: Studien belegen nicht, dass sich Betroffene durch höhere Sanktionen eher Arbeit suchen. „Die Regierung müsste jetzt also Studien zu diesen Effekten vorweisen. Diese Studien müssten außerdem belegen, dass es keine milderen Mittel gibt, die genauso geeignet sind“, sagt Kießling.

Wesentlich verändert hat sich die Studienlage seit 2019 aber nicht. „Ein Kollege von mir hat erforscht, dass leichte Sanktionen und die Drohung damit positive Effekte haben können auf die Vermittlung in den Arbeitsmarkt“, sagte Arbeitsmarktforscher Joachim Wolff diese Woche in der taz. „Aber zu viel Druck wirkt kontraproduktiv.“

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