Regiedebüt: Wirklich beste Freunde

In „(K)ein besonderes Bedürfnis“ macht sich der Autist Enea auf der Suche nach seinem ersten Sex auf den Weg von Italien ins niedersächsische Trebel.

Auf der Suche nach sexueller Befriedigung: Carlo Zoratti (r.) wollte seinem Freund Enea helfen und machte einen Film draus. Bild: Farbfilm Verleih

BREMEN taz | Kann man einem Freund helfen, indem man einen Film über ihn macht? Carlo Zoratti hat das in seinem Regiedebüt „(K)ein besonderes Bedürfnis“ versucht und herausgekommen ist ein merk- und denkwürdiger Film irgendwo zwischen Dokumentation und Spielfilm. Zorattis Freund ist der 29-jährige Autist Enea, den er kennt, seit er vor 16 Jahren in dessen Schule Freiwilligendienst leistete. Enea ist gut integriert, hat einen festen Job in einer Fabrik, liebevolle Eltern, von früher Kindheit an eine einfühlsame Therapeutin und eine Handvoll gute Freunde. Aber er kann seine Sexualität nicht ausleben.

Enea träumt davon, eine Freundin zu haben und mit ihr zu schlafen, wirkt auf junge Frauen aber so seltsam und unbeholfen, dass er sie mit seinen sehr direkten Annäherungsversuchen nur verschreckt. Als Zoratti ihn nach einigen Jahren wiedertraf, war er erschrocken darüber, wie hoffnungslos sein alter Freund in dieser Falle steckte. Er wollte ihm zu sexuellen Erfahrungen verhelfen und entschied sich, über den Weg dahin einen Film zu machen.

Zoratti tritt als einer der beiden Freunde von Enea auf, die mit ihm in einem alten VW-Transporter eine Reise von Italien bis ins Wendland unternehmen, damit Enea dort seine Jungfräulichkeit verliert. Was auf den ersten Blick nach einer abwegigen Idee klingt, wird im Laufe des Films immer plausibler. Enea gehört zu den Menschen, die von der Kamera geliebt werden und ist auf der Leinwand von der ersten Einstellung an so präsent und sympathisch, dass man keine Sekunde den Eindruck bekommt, er werde vorgeführt oder sei ein Objekt der voyeuristischen Begierde des Regisseurs.

„Enea hat bei den Dreharbeiten ziemlich schnell das Zepter in die Hand genommen, weil er durch seine Dynamik und seinen Rhythmus das Geschehen vor der Kamera bestimmt hat“, sagte der Hamburger Produzent des Films Henning Kamm in einem Gespräch mit der taz. Enea sei grundehrlich und könne sich nicht wirklich verstellen. „Die Anwesenheit der Kamera hat ihn natürlich motiviert, aber sein Verhalten wird durch sie nicht verfälscht“, sagte Kamm. „Er hat nichts für die Kamera gemacht, was er so nicht auch machen würde.“

Die im Film dokumentierten Erlebnisse der drei Freunde wurden natürlich für die Kamera arrangiert. Außerdem wird nie thematisiert, dass Carlo Zoratti nicht nur einer der drei Hauptprotagonisten, sondern gleichzeitig der Regisseur ist. Es wird konsequent so getan, als gebe es die Kameras und die Filmcrew gar nicht. Andererseits ist in den Filmsequenzen nichts vorherbestimmt. Es werden lediglich Situationen geschaffen, in denen Enea und die anderen spontan reagieren.

Zunächst versuchen die Freunde, nachts auf den Straße eine Prostituierte für Enea zu finden. Das scheitert daran, dass die Frauen sich nicht strafbar machen wollen, denn in Italien werden Menschen mit einer geistigen Behinderung vor dem Gesetz wie Kinder behandelt. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird ihnen abgesprochen. Sex mit Enea könnte in Italien also als Missbrauch geahndet werden. Deshalb fahren die drei Männer mit ihrem VW-Bus weiter nach Österreich in ein Bordell. Dort fühlt sich Enea aber eingeschüchtert durch den so direkt und professionell angebotenen Sex. Er flüchtet zurück ins Auto zu seinen Freunden.

Die drei Männer entscheiden dann bei einer Aussprache an einem malerischen Gebirgssee in den Alpen dazu, zum „Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter“ ins niedersächsische Trebel zu fahren. Dort werden Beratung und Therapien angeboten. Und dort arbeiten Sexualbegleiterinnen, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, sexuelle Erfahrungen zu machen. Eine von diesen Frauen ist Ute. Sie spricht Italienisch. Enea und Ute gehen dann tatsächlich miteinander ins Bett – und die Kamera verlässt das Schlafzimmer.

Bei dieser Sequenz wurde vieles inszeniert. So arbeitet Ute, die nach der Meinung von Kamm „wahrscheinlich die einzige italienisch sprechende Sexualbegleiterin der Welt“ ist, gar nicht in Trebel. Sie wurde von Zoratti während der langen Recherchen gefunden und reiste dann extra für die Dreharbeiten an. Dennoch macht Enea hier offensichtlich eine existentielle und authentische Erfahrung, und Zoratti gelingt es, dieses mit einem erstaunlichen Feingefühl und Wahrhaftigkeit spürbar zu machen.

„The Special Need“, so lautet der Originaltitel, hat seit seiner Weltpremiere auf dem Filmfestival in Locarno eine eindrucksvolle Festival-Karriere gemacht. Beim Filmfestival in Dallas bekam er den Grand Jury Prize als bester Dokumentarfilm, beim Italian Film Festival wurde er als bester Film ausgezeichnet und beim Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilme bekam er den Hauptpreis, die „Goldene Taube“ im deutschen Wettbewerb.

Enea reiste im vergangenen Jahr mit dem Film durch die Welt und Henning Kamm erzählt von überraschenden Publikumsreaktionen: „Wir haben ja gedacht, wir machen einen Jungsfilm. Aber stattdessen funktioniert er sehr gut mit jungen Frauen im Alter von 15 bis Mitte 20“, erzählt Kamm. Wenn Enea den Film vorstelle, unterhalten sie sich wahnsinnig gerne mit ihm und lassen sich mit ihm fotografieren. Enea habe seine Groupies. „Verliebt hat er sich dabei noch nicht, aber er genießt natürlich die Aufmerksamkeit. Aber das ist ihm auch zu gönnen, denn er hat im Film ja viel von sich preisgegeben“, sagt Kamm. Auch auf dieser Ebene ist der Film ein Freundschaftsdienst und deshalb ist es nur konsequent, wenn Kamm ihn lieber „Wirklich beste Freunde“ genannt hätte.

„(K)ein besonderes Bedürfnis“ läuft im Abaton in Hamburg, dem Cinema in Bremen und im Studio Filmtheater in Kiel
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