Regierungsbildung in der Ukraine: "Wir sind ein normales Land geworden"

Vorgezogene Neuwahlen könnten Georgien aus der Krise führen, meint der Politiker Grigorij Nemirja. Auch in der Ukraine konnte so ein Weg aus dem Verfassungskonflikt gefunden werden.

"Keine Partei hat in einer Region noch eine Monopolstellung. Das ist eine positive Entwicklung," sagt Nemirja. Bild: archiv

taz: Sechs Wochen nach den Parlamentswahlen hat die Ukraine immer noch keine neue Regierung. Tut sich da bis Ende des Jahres noch etwas?

Grigorij Nemirja: Ich denke, Ende des Monats wird es so weit sein. Dann tritt das neue Parlament zum ersten Mal zusammen, um eine neue Regierung zu wählen. Damit macht die Ukraine einen zweiten Schritt in Richtung Europa. Der erste war, dass es zum wiederholten Male gelungen ist, faire und demokratische Wahlen abzuhalten.

Welche Koalition ist zu erwarten?

Die BJUT-Partei von Julia Timoschenko und "Unsere Ukraine" von Staatspräsident Viktor Juschtschenko werden eine Koalition bilden - mit Timoschenko als Ministerpräsidentin.

Wie können Sie da so sicher sein? Die Partei von Juschtschenko ist bereits mehrmals umgefallen. Ist ein Zusammengehen mit der russlandnahen "Partei der Regionen" von Viktor Janukowitsch wirklich ausgeschlossen?

Das ist ausgeschlossen, weil das den politischen Tod von "Unsere Ukraine" bedeuten würde. Und den des Präsidenten Juschtschenko gleich mit.

Die politische Krise in diesem Jahr verdankte sich ja auch den mehrdeutigen Bestimmungen in der Verfassung. Welche Änderungen will die neue Regierung in Angriff nehmen?

In der Ukraine gibt es einen Konsens darüber, dass die Verfassung geändert werden muss. Das sind Veränderungen, die das Nebeneinander der Machtzentren beenden und die Vollmachten des Präsidenten, der Regierung und des Parlaments scharf voneinander abgrenzen. Diese Veränderungen müssen möglichst frühzeitig vor den nächsten Präsidentenwahlen 2009 erfolgen, damit die Verfassung nicht zur politischen Geisel eines Machtkampfes wird, der jeden Wahlkampf bestimmt.

In der Vergangenheit war oft von den "zwei Ukrainen" die Rede: dem ukrainischen Westen und dem russischen Osten des Landes. Taugt diese Zweiteilung als Erklärungsmuster?

Sie taugte noch nie als Erklärungsmuster. Gerade die letzten Wahlen vom September haben gezeigt, dass die Ukraine ein normales Land geworden ist. Natürliche gibt es regionale, kulturelle und religiöse Unterschiede. Doch diese schlagen sich nicht mehr so wie bei früheren Wahlen in den politischen Präferenzen der Wähler nieder. So hat die "Partei der Regionen" die meisten Stimmen im Osten, in Donezk, verloren. Keine Partei hat in einer Region noch eine Monopolstellung. Das ist eine positive Entwicklung.

Die Rosenrevolution in Georgien und die orangene Revolution in der Ukraine wurden häufig in einem Atemzug genannt. Jetzt geht der einstige Revolutionär Michail Saakaschwili gegen die Opposition und die Medien vor. Wäre so ein Szenario auch in der Ukraine denkbar?

Nein. In Georgien war der Machtwechsel weitaus tiefgreifender, ein härterer Bruch mit der politischen Vergangenheit als in der Ukraine. Anders als bei uns gibt es auf dem Territorium Georgiens auch noch eingefrorene Konflikte.

Wie beurteilen Sie das Vorgehen Saakaschwilis?

Das beunruhigt mich. Die Tatsache jedoch, dass er vorgezogenen Wahlen zugestimmt hat, ist außerordentlich positiv. Auch wir in der Ukraine haben durch vorgezogene Neuwahlen einen Weg aus der innenpolitischen Krise gefunden.

Wie will Kiew künftig seine Beziehungen zu Russland gestalten?

Die Ukraine kann Russland nicht den Rücken kehren. Eine Möglichkeit, um die Beziehungen zu verbessern, wären Programme wie Erasmus, die den Austausch von jungen Leuten oder Wissenschaftlern befördern.

Wird die neue Regierung eine Annäherung an Europa anstreben?

Das war seit der orangenen Revolution immer eine Priorität der ukrainischen Außenpolitik. Das Problem ist, dass es keine Priorität der Innenpolitik war. Die europäische Integration ist aber vor allem eine Angelegenheit innerer Reformen. Jetzt wird es das erste Mal in der Geschichte der Ukraine eine proeuropäische Regierung geben, die sich auf eine proeuropäische Parlamentsmehrheit stützt. Auch die Oppositionsparteien sehen die Ukraine in der Europäischen Union. Das eröffnet Möglichkeiten für eine konstruktive Zusammenarbeit im Parlament.

Glauben sie, einen EU-Beitritt der Ukraine auf absehbare Zeit zu erleben?

Wir machen uns keine Illusionen und verstehen, dass wir unsere Beziehungen zur EU erst mal nur im Rahmen der Nachbarschaftspolitik gestalten können. Aber ich hoffe, dass die Ukraine Mitglied der EU sein wird, wenn mein Sohn sein Studium abschließt.

Wie alt ist er jetzt?

Zehn Jahre.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL

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