Regisseur über Film „Sieniawka“: „Nur Beobachtung ist zu wenig“

Aus dem Innern einer polnischen Nervenheilanstalt: Ein Gespräch mit Marcin Malaszczak über sein berückendes Langfilmdebüt „Sieniawka“.

Filmstill aus Marcin Malaszczaks Debütfilm „Sieniawka“. Bild: Arsenal Distribution

taz: Herr Malaszczak, „Sieniawka“ lief im letzten Jahr beim Dokumentarfilmfestival in Duisburg, wird im Begleittext aber als Spielfilm bezeichnet. Worum handelt es sich?

Marcin Malaszczak: Ich würde das gar nicht kategorisieren wollen. Für den Filmemacher, für die Arbeit ist die Unterscheidung egal. Die braucht man nur, wenn man Förderung beantragt, im System arbeiten will. Dann muss man alles benennen. Das gilt später auch für die meisten Festivals.

Wie sieht die Arbeit denn aus? Wie lange haben Sie etwa im „Krankenhaus für die Behandlung von Geistes- und Nervenkrankheiten und Alkoholismus“ in dem kleinen Ort gleich hinter der Grenze bei Zittau recherchiert?

Ich kenne das Krankenhaus seit meiner Kindheit. Meine Tante hat dort gearbeitet, mein Großvater auch. Ich habe eine Zeit lang als Kind in Sieniawka verbracht und bin dort immer wieder zu Besuch gewesen. Bestimmte Patienten konnten sich an mich erinnern, als ich ein Kind war. Das ist aufregend: Ich war in deren Wahrnehmung, bevor die in meiner waren.

Wo hat denn Ihre Tante gewohnt?

Marcin Malaszczak wurde 1985 im polnischen Kowary nahe Jelenia Góra am Rande des Riesengebirges geboren. Noch vor 1989 siedelte die Familie nach Westberlin über, weshalb Malaszczak „zwischen den Stühlen“ aufwuchs, in Deutschland und Polen.

2006 begann er das Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), das er mit seinem Drittjahresfilm „Sieniawka“ abschloss. Der Film gewann beim FID in Marseille den Preis für den besten Debütfilm, bei der Duisburger Filmwoche den Arte-Preis. Gemeinsam mit Michel Balagué betreibt Malaszczak die Produktionsfirma Mengamuk Films.

Auf dem Gelände. Die Hälfte der Siedlung wird vom Krankenhaus in Anspruch genommen, die andere Hälfte ist Wohnraum. Lange war es so, dass die Leute, die im Krankenhaus gearbeitet haben, in der anderen Hälfte gewohnt haben. Wie meine Tante. Eine Gemeinschaft, alle kannten sich untereinander. Jetzt untersteht das Krankenhaus einer Klinik in Görlitz, die Wohnhälfte wird von der Stadt verwaltet. Das bedeutet eine Spaltung. Es ziehen Leute dorthin, die mit dem Krankenhaus nicht verbunden sind.

Wie geht das Drehen dann vor sich?

Ich hatte ein kleines Team. Meine vorherigen Filme waren streng durchkonzipiert. Das war das erste Projekt, bei dem ich an den Ort gefahren bin und nicht wusste, was passieren wird. Erst bei der Arbeit hat sich die Form herausgestellt, die der Film dann haben sollte. Dass ich irgendwann angefangen habe, die Plansequenzen zu drehen und im Raum zu choreografieren. Das war sehr organisch. Bei der Arbeit habe ich festgestellt, dass mir die reine Beobachtung einfach zu wenig ist, weil durch die Beobachtung das Material eine Tendenz ins Fiktionale zeigt. Das wollte ich weiter ausreizen und verfolgen. Und das führt dann zu den Verwirrungen mit den Kategorien.

Dabei ist „Sieniawka“ ein Entwirrer: Der Film erinnert einen beim Sehen daran, dass es um die Formatierungen, die man aus dem Fernsehen gewöhnt ist, nicht geht.

Die erste Plansequenz mit dem Klavierspieler, das ist für mich der Moment, in dem man einen Weg einschlägt in dem Film. Manche Leute gehen nicht mit, die verlassen das Kino nach dieser Einstellung. Aber die, die bleiben, bleiben bis zum Schluss. Das ist für mich wichtig, das ästhetisch so zu setzen. Man verliert die Orientierung in Zeit und Raum und vergisst beim Sehen fast, wer man selber ist. Ich denke, dass Zuschauer das aushalten. Die halten noch viel mehr aus.

Eine von vielen möglichen Antworten auf die Frage, was „Sieniawka“ eigentlich ist, könnte lauten: die Verfilmung des John-Maus-Songs „The Silent Chorus“, der zu den retrofuturistischen Credits im Abspann läuft. Ein Lied von 2007, das sphärt und scheppert, als käme es aus den achtziger Jahren, und das mal abstrakt, mal konkret aufzählt, welche Zeit gerade ist: „This is the time for all but sunset.“

Die Zeit in „Sieniawka“ ist nicht leicht zu bestimmen, weshalb es zu den schönsten Momenten gehört, wenn im letzten Drittel, als der Film ins Reden kommt, ein Mann einen anderen zum Reden ermutigt, indem er sagt: „Wir haben Zeit. Bis halb sechs.“

Der Film spielt in einem Nervenkrankenhaus an der deutsch-polnischen Grenze, schildert die Patienten aber nicht dokumentarisch-journalistisch, sondern als merkwürdige Übriggebliebene einer Vergangenheit. Oder als Sendboten einer unklaren Zukunft. Wenn der Protagonist, eine Art Guide durch Raum und Zeit, den Verfall erklärt, spricht er von den Ruinen der Demokratie. Am Ende verlässt er das Krankenhaus in Richtung der nächstgelegenen Stadt Bogatynia, deren zerstörte Realität nach dem Hochwasser von 2010 unwirklich erscheint.

Vermutlich handelt „Sieniawka“ mit seinen intensiven Beobachtungen und kleinen Eingriffen in Ton und Bild (einmal läuft der Film rückwärts) also von der Apokalypse, die in der Gegenwart steckt.

„Sieniawka“. Regie: Marcin Malaszczak. Mit Stefan Szyzszka, Stanislaw Chmiskin u. a. Deutschland/Polen 2013, 126 Min.

Das Aushalten betrifft auch ethische Fragen. Der westlich Zuschauer, der von seinem Wohlstand nicht abstrahieren kann, wird in „Sieniawka“ vermutlich immer nur Elend und Verfall sehen, was dann mit Mitleid bekämpft werden muss. Dabei geht es Ihnen doch gar nicht um Journalismus, es geht Ihnen noch nicht einmal um Psychiatrie.

Es gibt Leute, die mir Voyeurismus vorwerfen, aber ich sehe das nicht so. Natürlich hat der Film etwas Elegisches, Melancholisches, das muss auch da sein. Es gibt aber auch Szenen, da wird getanzt, etwas Kakofonisches gezeigt. Ich mag die Bewegung hin zur Abstraktion, zur Öffnung der Konstruktion und dann wieder ins Gegenständliche, fast Naturalistische.

Wie wappnet man sich denn gegen den falschen Blick von außen?

Durch den Blick zurück, den Blick der Patienten in die Kamera. Ich hätte das unterbinden können. Mir war aber wichtig, dass es die Konfrontation der Blicke gibt, dass auch wir beobachtet werden beim Beobachten. Wenn man sich fragt, wo die Grenze ist, heißt das vielleicht, dass man die Grenze manchmal überschreiten muss, damit man sie überhaupt sieht.

Man muss bei „Sieniawka“ genau hinschauen. Vieles erfährt man aus den Beitexten zum Film. Etwa dass das Krankenhaus ursprünglich eine deutsche Kasernensiedlung, im Zweiten Weltkrieg ein Arbeitslager war.

Es gibt durchaus einen Hinweis in dem Film darauf: die Tordurchfahrt, die wiederholt wird. Jeder, der ein wenig Kenntnis von Architektur hat, sieht, dass das ein Lager ist. Da fehlt nur noch der Turm, der abgetragen wurde. Aber ich wollte das im Hintergrund lassen, darum geht es letztendlich nicht. Ich fange immer bei der Gegenwart an. Von dieser Perspektive aus operiere ich. Die Gegenwart in Sieniawka ist ziemlich chaotisch, undurchdringlich. Für mich ist der Film auch Dokumentation eines Wahrnehmungsprozesses, wie sich die Dinge in der Zeit herausschälen.

Die Gegenwart Polens, das aktuelle polnische Kino wird in deutschen Kritiken immer mit der Vokabel „postkommunistisch“ beschrieben. Das klingt so, als würde man dem Sozialismus Probleme von heute in Rechnung stellen. Dabei ist damit doch die kapitalistisch organisierte Zeit heute gemeint. Darauf verweist Ihr Protagonist, wenn er sagt, dass die Demokratie die Ruinen besorgt hat.

Für mich findet in Polen keine Auseinandersetzung mit der Gegenwart statt. Wenn ich mir polnische Filme anschaue, etwa Małgorzata Szumowskas „Im Namen des …“, da werden Reizthemen hergenommen wie der schwule Priester, es geht aber nie darum, was heute interessant ist. Nämlich: Wie sich die Landschaft verändert. In jeder kleinen Stadt haben Sie diese ahistorischen Einkaufsmärkte und Supermärkte, Räume, die man aus dem Westen kennt. Der Neoliberalismus ist in Polen viel drastischer als in Deutschland. Es ist völlig klar, dass bestimmte Leute der Entwicklung geopfert werden. Dazu gehören auch die Leute aus Sieniawka.

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