Reisebericht Bosnien u. Herzegowina 2014: Eintauchen in ein vielfältig zerrissenes Land

„Du bist kaum angekommen, da bist du schon mitten drin!“ beginnt Christian Wahnschaffe seinen Bericht von dieser taz-Reise vom Oktober 2014, die 2015 jedoch leicht verändert wurde (v. a. Srebrenica wird nicht mehr besucht).

Panorama-Blick auf Sarajevo Bild: Werner Kamppeter

Eben, beim Abendessen, hast du noch einen optimistischen Vortrag einer Historikerin aus Sarajevo gehört, jetzt stehst du zwischen vielen jungen Menschen im stickigen Foyer eines Theaters. Gleich wirst Du, dreisprachig, deutsch, englisch und serbokroatisch, in einer sehr individuellen Betrachtungsweise mit dem Anlass zum Ausbruch des 1. Weltkrieges konfrontiert, einem Mosaikstein aus der Geschichte dieses vielfältig zerrissenen Landes.

Nachdenken und dich erholen kannst Du nachher, vielleicht auf dem langen Spaziergang durch die nächtliche Stadt zum Hotel oder auch erst zuhause nach deiner Rückkehr. Reiseleiter Erich schont dich nicht. Er hat ein Konzept im Kopf, wie er dir die Stätte seines langjährigen Wirkens (der engagierte Vollblutjournalist ist seit den neunziger Jahren im Land, hat schon in der Zeit der Belagerung Sarajevos unter Lebensgefahr den Kontakt zwischen den Eingeschlossenen und den Menschen draußen aufrecht zu halten versucht) nahebringen möchte. An seiner Seite seine Frau Amela, die durch ihre verbindliche Art und ihr fröhliches Lachen für Entschleunigung sorgt.

Aber zunächst geht es Schlag auf Schlag weiter. Nach einem vergleichsweise harmlosen Spaziergang am Sonntagvormittag durch die Innenstadt ein weiterer Vortrag, dann mit dem Bus zu einer Stadtrundfahrt mit Tunnelmuseum (der Tunnel war während der Belagerung eine wichtige Versorgungsleitung zwischen drinnen und draußen) und einem jüdischen Friedhof, von dem aus du die Position der Belagerer, die Richtung ihrer Schüsse nachvollziehen kannst. Abends ein Gespräch mit einem Menschenrechtler, bei dem die Gruppe selbst dafür sorgen muss, dass die Situation der Menschenrechte zur Sprache kommt (Erich ist mehr an einer Kommentierung der aktuellen Wahlergebnisse interessiert).

Am nächsten Morgen dann endlich eine etwas gemütlichere Busfahrt in die Herzegowina. Bei einer Rast an der Bunaquelle (sehr schönes ehemaliges Sufikloster) scheint bei einem mittäglichen Fischessen im Freien auf einmal alle Zeit der Welt zur Verfügung zu stehen. Dann weiter nach Mostar. Dort unter Anleitung eines eher zynischen Reiseführers vorbei an teilweise seit dem Bürgerkrieg beschädigten Gebäuden zur berühmten Brücke, von der aus sich, wenn du bereit bist, 30 Euro zu bezahlen, jemand aus schwindelnder Höhe in den Fluss stürzen würde (ungeachtet der dabei langfristig auftretenden Gesundheitsschäden).

In Mostar Bild: Werner Kamppeter

Es folgt ein Aufenthalt in einem Café in der pittoresken Altstadt und schließlich ein Abendessen in einer von einer Serbin geleiteten Bildungsinstitution (hier entsteht zum ersten Mal ein Eindruck von der Hoffnungslosigkeit im Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen). Bei einer von einem Geburtstagskind aus der Gruppe spontan ausgerufenen Spendenaktion kommt etwas Geld zusammen, das die schwierige Situation zumindest vorübergehend etwas lindern wird.

Deine Mitreisenden sind bis auf zwei „Ausreißer“ der Gruppe der „Jungsenioren“ (60plus, der Älteste ist bereits 82) zuzuordnen, einem Personenkreis, dem man nachsagt, er sei besonders zäh und durchhaltefähig. Aber da gibt es Grenzen, die bei einer Planung künftiger Reisen berücksichtigt werden sollten. Immer wieder mal nimmt sich die eine oder der andere, wenn der Programmablauf dies zulässt, eine Auszeit, bleibt zum Beispiel abends im Hotel, statt mit zum Essen zu gehen. Natürlich gibt es auch Teilnehmer, die nicht genug bekommen können und sich weitere Programmpunkte und Begegnungen wünschen und Erich und Amela noch mit Fragen löchern, selbst wenn diese bereits am Anschlag sind. Zum Glück können beide für sich sorgen, und die von ihnen eingelegten Raucherpausen kommen letztlich auch der Gruppe zugute.

Der zweite Reisetag im Land bringt euch nach langer Fahrt in die alte Königs- und vorübergehende Hauptstadt Jajce. Hier ist es den Angehörigen der verschiedenen Volksgruppen offensichtlich ausnahmsweise gelungen, in einigermaßen harmonischem Zusammenleben so etwas wie eine Regionalkultur aufzubauen. Die überaus positive Stadtführung beginnt in einem römischen Mithräum, führt über eine weiträumige Burganlage, von deren Mauern sich eine prächtige Aussicht auf die Stadt und ihre Umgebung bietet, in ein seltsames Museumkommunistischer, panslawistischer Geschichte und weiter zu einemmalerisch beleuchteten Wasserfall. Das Abendessen in einem ortstypischen Restaurant entschädigt für die Mühen des Tages.

Jajce Bild: Werner Kamppeter

Die kalte Dusche am nächsten Tag! Nicht nur, weil es zeitweise wie aus Kübeln regnet. Da gibt es die erste Begegnung mit dem Genozid auf einem Friedhof mit Gedenkstätte in Caraovo bei Prijedor. Der junge Mann, der uns mit starker innerer Beteiligung davon berichtet, dass 44 Angehörige seiner Familie hier starben (er ist immer noch auf der Suche nach dem Mörder seines Vaters!) und zusammen mit anderen unter weißen Einheitskreuzen beerdigt sind (die grünen Kreuze sind für die Toten, die noch nicht „ordnungsgemäß“ bestattet werden konnten).

Der Ort hat etwas Gespenstisches. Alles, die Kreuze und die Stelen mit den Namen der Toten, sieht friedlich aus. Und dennoch zeugt das Ganze von dem Grauen eines Krieges zwischen Menschen, die früher einmal friedliche Nachbarn gewesen sein sollen. Die früheren Bewohner des Ortes haben mit öffentlichen Geldern neue Häuser errichtet, in denen sie jedoch nicht mehr leben, sondern in die sie nur in den Sommermonaten für kurze Zeit zurückkehren, um zu feiern und so zu tun, als sei nichts gewesen.

Später die Vorführung eines Films, den Erich und Amela mit vielen bosnischen Muslimen und einem Serben als Zeitzeugen gedreht haben, die ihn jetzt selbst zum ersten Male zu sehen bekommen. Hier gibt es ausnahmsweise mal keine Übersetzung, aber die Bilder sprechen für sich. Am frühen Abend kommt die Gruppe in die zweitgrößte Stadt des Landes, Banja Luca, die Hauptstadt des serbischen Teils von Bosnien. Ein abendlicher Rundgang führt unter anderem vorbei an einer gewaltigen orthodoxen Kirche durch die Altstadt und endet in einem Restaurant, wo ihr im Freien am Ufer eines Flusses sitzt, eine Kleinigkeit esst und die Erfahrungen des Tages austauscht.

Der Weg von Banja Luca nach Sarajevo ist weit. Zum Glück habt ihr einen Teil des für heute vorgesehenen Programmes bereits gestern erledigt. Zu weiterem Glück liegt an der Fahrtroute Travnik, die Geburtsstadt des Dichters Ivo Andric, der von jeder der Volksgruppen im Lande für sich beansprucht wird. Obwohl erst nach dem Vortrag eines weiteren Journalisten (wieder kein Serbe, so dass ihr niemandem begegnet, der die serbische Sicht der Dinge darstellt) aufgebrochen, erreicht ihr Travnik um die Mittagszeit.

In der Bunten Moschee in Travnik Bild: Werner Kamppeter

Da der Führer durch das Andric-Museum gerade Pause macht, bleibt Zeit für einen Besuch in einer Moschee, deren Imam zunächst freimütig auf Fragen antwortet, dann aber immer einsilbiger wird und schließlich das Gespräch beendet, als es auf den möglichen Einsatz seiner jungen Glaubensgenossen beim „Islamischen Staat“ kommt.

Im Museum zahlreiche Erinnerungsstücke an den großen Dichter (am bekanntesten Werk ist wohl „Die Brücke über die Drina“) und Buchausgaben seiner Werke in verschiedenen Sprachen. Der Vortrag des Museumsführers routiniert und wenig aussagekräftig. – Ein reichhaltiges Mittagessen in einem herrlich gelegenen Restaurant am Wege. Danach geht es, teilweise über die Autobahn, in die Landeshauptstadt, wo ihr in der Abenddämmerung eintrefft.

Ein weiterer Tag mit einer langen Busfahrt. Es geht nach Srebrenica, jenem Ort, an welchem 1995 die Serben an zahlreichen Muslimen in unmittelbarer Nähe nicht eingreifender niederländischer UNO-Soldaten einen brutalen Völkermord begangen haben. Der Hinweg führt euch über eine landschaftlich reizvolle Bergstraße durch überwiegend serbisches Gebiet (Erich: „Die Serben wohnen oben auf den Bergen“). Der serbische Wirt eines Restaurants weigert sich, an die Gruppe Kaffee auszuschenken, weil er zu Recht vermutet, dass sie nach Srebrenica fährt.

Gedenkstätte in Srebrenica Bild: Werner Kamppeter

Die große Gedenkstätte mit riesigem Gräberfeld und großen fast leeren Werkhallen – in einer sind Gegenstände aus dem Besitz der Opfer, in einer anderen eine Filmvorführung. Das Ganze erinnert an deutsche Gedenkorte wie Dachau oder Oranienburg. Für dich war das Gedenken auf dem vergleichsweise kleinen Friedhof in Carakovo unmittelbarer und anrührender. Sollten künftige Reisegruppen auf den Besuch in Sr. verzichten, stattdessen die ständige Gedenkausstellung zu Srebrenica im Stadtzentrum von Sarajevo besuchen? Eine schwierige Entscheidung!

Mittagessen in einem muslimischen Restaurant am Ortsausgang von Sr.. Jemand muss Erich hier etwas in den Tee geschüttet haben. Jedenfalls lässt er auf der langen Rückfahrt, die dieses Mal durch verschiedene Flusstäler führt, das Mikrofon nicht mehr los und gibt Erklärungen und Antworten auch auf Fragen, die niemand gestellt hat. Entsprechend müde und leicht genervt langt ihr wieder im Hotel an, Abendspaziergänge und Einkehr nur noch in kleinen Gruppen.

Der letzte vollständige Tag der taz-Reise ist den Religionen gewidmet. Morgens neben einem kurzen Besuch im Sarajevo-Museum eine längere konzentrierte Besichtigung der großen orthodoxen Kirche und des dazu gehörigen Museums. Am Nachmittag ein Gespräch mit einer Nonne und vier sehr lebendigen Mädchen, die in einer Organisation für Drogenprävention mitarbeiten. In Erinnerung bleibt der Satz einer der jungen Frauen: „Gottseidank bin ich Atheistin“. Vor dem Abendessen noch eine Runde mit einem muslimischen Philosophen, der sich nicht darauf festlegen lässt, dass der Koran eine Religion ohne Liebe verkündet.

Vor einem Kaffeehaus in Sarajevo Bild: Werner Kamppeter

Am Mittag dieses Tages sitzt ihr entspannt in einem Straßencafé in der Nähe des Hotels und wertet mit Amela und Erich den Verlauf der Reise aus. Die gegenseitigen Feedbacks sind fast ausschließlich positiv. Du könntest dir gut vorstellen, eine weitere Reise mit den Beiden zu machen.

Am Abend dann ein Essen in einem bosniakischen Lokal, mit lyrischen Dankesworten an die Reiseleiter und einer ausdrucksvollen Sängerin die Lieder in verschiedenen Sprachen vorträgt. Der Abend endet vergleichsweise früh. Ihr habt alle noch eine weite Heimreise vor euch!

Die Fotos für diesen Reisebericht sind von Werner Kamppeter, der ebenfalls Teilnehmer der Reise im Oktober 2014 war.