Reisebericht Kosovo Juli 2009 : Mühevolle Herausbildung einer Zivilgesellschaft

Überall wachsen Neubauten doch die Arbeitslosenquote liegt über 50 Prozent; Heribert Kohl, Teilnehmer der taz-Reise im Juli 2009, berichtet.

Pec (Peje) und die albanischen Alpen Bild: Archiv

Kann es in dem erst 2008 zum Staat erklärten Kosovo überhaupt eine Zivilgesellschaft geben - angesichts einer jahrzehntelangen Unterdrückung der Bevölkerungsmehrheit in der Endphase des früheren Jugoslawien, angesichts der „Befreiungsaktion“ durch den NATO-Einsatz 1999 und einem jahrelangen rechtlichen Schwebezustand, bevor das Kosovo schließlich von einem Teil der Weltgemeinschaft als Völkerrechtssubjekt anerkannt wurde?

Diese Fragestellung sowie die aktuelle Situation im Kosovo interessierte ein gutes Dutzend taz-Leser aus Deutschland und der Schweiz, die während einer einwöchigen „Reise in die Zivilgesellschaft“ Kosovos ein hoch interessantes Programm erleben durften (18.-24. Juli 2009). Reiseleiter war taz-Korrepondent Erich Rathfelder, seit Jahrzehnten vor Ort tätig und Augenzeuge der entscheidenden Stadien der Entstehung dieses neuen europäischen Staates vor, während und nach der Phase von äußerst gewaltsamen Auseinandersetzungen. Er vermittelte den Beteiligten ein umfassendes und in vielem überraschendes Bild der Strömungen und Entwicklungspotenziale in einem Land, das in vielerlei Beziehung bei Null ansetzen musste.

Wie manchem Zeitgenossen erinnerlich, war Kosovo in dem heute als „goldene Ära“ empfundenen Jugoslawien Titos eine autonome Region innerhalb der föderalen Republik Serbien mit auch kultureller Eigenständigkeit. Diese wurde 1989 durch dessen Präsident Miloševic' abrupt aufgekündigt mit dem Ziel, die albanisch-stämmige Mehrheitsgesellschaft zu eliminieren: 70 % der Beschäftigten im öffentlichen Dienst (einschließlich Schulen und Krankenhäusern) wurden 1990 entlassen, im Gefolge brach die Wirtschaft in ähnlichem Umfang ein. 

Trotz anfänglicher Gewaltfreiheit, wie sie vor allem der spätere Präsident Ibrahim Rugova propagierte, eskalierten sodann blutige Auseinandersetzungen und an den Albanern verübte Exekutionen. Mit der Folge, dass Ende der 90er Jahre über die Hälfte der Kosovaren außer Landes getrieben waren und weitere 20% als Flüchtlinge im Land umher irrten, bis der NATO-Eingriff dem ein Ende setzte und die serbischen Truppen das Land verließen. Seither ist Kosovo (albanisch Kosova) faktisch ein internationales Protektorat mit bis heute (2009) ungeklärtem Status – trotz Proklamation der staatlichen Unabhängigkeit im Februar 2008.

Trotz ungünstiger historischer Rahmenbedingungen (siehe nebenstehenden Kasten) für die Entstehung einer Zivilgesellschaft, zeigen sich ihre Spuren dennoch mit zunehmender Vitalität. Dies jedenfalls war die interessanteste Entdeckung der Reiseteilnehmer. Dieser Eindruck war in erster Linie das Ergebnis von Kontakten mit einer Reihe engagierter politischer Personen, Künstler und Intellektuellen, aber auch Angehörigen von Minderheiten wie der ins Abseits geschobenen Roma.

Dem von außen kommenden Besucher des Landes bietet sich zunächst äußerlich folgendes Bild: Ganz Kosovo ist eine einzige Baustelle, dies in jeder Hinsicht: Überall zeigen sich Neubauten jeglicher Form und Größe. Wieder hergestellte Häuser schießen links und rechts der Durchgangsstraßen aus dem Boden, Überlandstraßen werden neu trassiert, kleine Betriebe und Geschäfte mit internationalem Sortiment sind allenthalben tätig und locken Kunden an. Junge Menschen und Kinder dominieren das Straßenbild – denn das Land weist das jüngste Durchschnittsalter in ganz Europa auf. Dies wiederum verlangt erweiterte Schulen und Fakultäten, um den expandierenden Bildungs- und vor allem Studiendrang, wie er in der EU sonst nirgends anzutreffen ist, bewältigen zu können.

Albin Kurti von der Bewegung „Selbstbestimmung“ Bild: Archiv

Die andere Seite des Bildes ist aber eine extrem hohe Arbeitslosenrate von offiziell 50%, durchschnittliche Niedrigsteinkommen zwischen monatlich 130 und 250 Euro – ganz zu schweigen von den kaum zum Überleben in einer Stadt reichenden Renten sowie der fehlenden sozialen Sicherung im Falle von Arbeitslosigkeit und Krankheit.

Dennoch: Die Reisegruppe lernte eine Vielzahl unterschiedlicher Initiativen und in ihren Zielsetzungen überzeugenden NGO’s kennen: angefangen von der Gruppierung um den Schriftsteller Ibrahim Kelmendi, die eine Zukunft des Landes nur durch Versöhnung und das damit mögliche konstruktive Miteinander der Volksgruppen sieht, - über die Aktivisten der Bewegung „Selbstbestimmung“ um den charismatischen Albin Kurti – bis hin zu dem in seiner Vielfalt beeindruckenden Frauennetzwerk unter Leitung von Igballe Rogova. Ihr gelang es, 87 Frauenorganisationen – darunter jüngst vermehrt auch solche der Serben und selbst der Roma – miteinander zu verbinden und ihnen Gehör für ihre vitalen Bedürfnisse zu verschaffen. Als Hauptprobleme der breiten Bevölkerung beziffert dieses Netzwerk die ständigen, oft täglich wiederkehrenden Unterbrechungen von Strom und auch Wasser, ungepflasterte Straßen, fehlende Verdienstmöglichkeiten und, nicht zuletzt, weit verbreitete Korruption und Nepotismus.

Letzteres lastet wie ein Krebsgeschwür über dem Land. Die Ursache dieses Übels liegt weniger an einer landesspezifischen Mentalität als vielmehr an den dominierenden, durch die Kuratel der internationalen Aufsichtsorgane am Leben gehaltenen politischen Strukturen. Die hier tätigen Repräsentanten von UN und EU mit ihren Tausenden Bürokraten, Juristen, Polizisten und Zöllnern steuern und kontrollieren in Kooperation mit der kosovarischen politischen Klasse den Zufluß von Ressourcen zum oft wechselseitigen Vorteil. Weiterer Anlass der verbreiteten Korruption sind die vergleichsweise niedrigen Gehälter der lokalen Verwaltungsangehörigen, die zur Kompensation verbreitet die Hand für jeglichen Service aufhalten und demokratische Kontrolle scheuen.

Im bleiversuchten Roma-Lager „Cemin Lug“ im Norden von Mitrovica – im Hintergrund der LKW einer Hilfsorganisation bei der Umsiedlung von Familien in den wieder errichteten Stadtteil der Roma „Mahala“ Bild: Claudia Schmidt /Peter Jäger

Soweit sich gegen diese Verhältnisse wirksame Kritik oder gar öffentlicher Widerstand regt, geraten die Initiatoren von Protestaktionen in den Augen der internationalen Kontrollorgane schnell in den Geruch angeblich nationalistisch motivierter Terrorversuche. Kritik wird von offizieller Seite vielfach unterbunden und selbst die Organisatoren gewaltfreier Aktionen müssen mit einem Gefängnisaufenthalt rechnen – wie Aktivisten der Bewegung „Selbstbestimmung“ wiederholt erleben mussten.

Eine schlechte Ausgangslage also für die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – solange dem Land durch das Patt zwischen Anerkennungsbefürwortern und -gegnern (im Weltsicherheitsrat wie auch in der EU) nach wie vor die volle Souveränität vorenthalten bleibt. Hinzu kommen die verfestigten, ethnisch-kulturell begründeten Parallelstrukturen der serbischen Minderheit insbesondere in der an Serbien angrenzenden Region um die zweitgrößte Stadt Kosovos, Mitrovica. Durch demonstratives Festhalten an andersstaatlichen Symbolen und Merkmalen (Flagge, Autokennzeichen, Währung, Sprache) verhindert hier die serbische Bevölkerung das notwendige Zusammenwirken und zementiert damit einen Ghettozustand im Schutze internationaler KFOR-Einheiten ohne jede Aussicht auf Veränderung. Trotz intensiver Bemühungen gelang es unserer Reisegruppe hier nicht, vorab vereinbarte Gespräche mit Sprechern der serbischen Seite oder auch der EULEX-Mission zustande zu bringen. So musste man sich mit der stereotypen Aussage von Bewohnern begnügen, ein gemeinsames Leben mit den anderen sei nicht vorstellbar („zajedno ne mogu“ – die „anderen“ wollen keine Gemeinsamkeit).

Den Teilnehmern dieser Studienreise war es daher vergönnt, seltsame Ausweiskontrollen beim Besuch eines orthodoxen Klosters durch italienische SoldatInnen zu erleben – wobei unsere albanischen Übersetzer und Begleiter zurückgewiesen wurden – oder eine Speisekarte ausschließlich in kyrillischer Schrift (trotz offizieller Zweisprachigkeit!) studieren zu müssen.

Sufi-Scheich des Bektashi-Ordens Bild: Claudia Schmidt / Peter Jäger

Kompensiert wurde das Ganze indessen durch eine zuweilen grandiose landschaftliche Kulisse, wunderbare, teils orientalisch anmutende Stadtkerne (wie in Prizren), Begegnungen mit beeindruckenden und äußerst gastfreundlichen Clan-Chefs oder dem Oberhaupt der liberalen islamischen Sufi-Gemeinde im Rahmen eines dichtgedrängten Programms. Hinzu kamen unmittelbare Kontakte mit weiteren Minderheiten wie z.B. in den Roma-„Mahallas“ und -Camps, in denen eine ganze Reihe auch deutschsprachiger Re-Emigranten anzutreffen waren. Diese werden im Rahmen des deutsch-kosovarischen Rückkehrabkommens für Angehörige der Roma jetzt sukzessive in ein Land zurückgeschickt, in dem sie neben der Garantie einer Unterkunft keine berufliche Perspektive oder Entfaltungsmöglichkeit vorfinden. Ein weites Feld eröffnete sich damit für diejenigen Reiseteilnehmer, die in der Flüchtlingsberatung in Deutschland oder der Schweiz engagiert sind und die Folgen dieser Form der Abschiebung aus Zentraleuropa unmittelbar erfahren mussten.

Vielfältige Kontakte zwischen Besuchten und Besuchern – auch untereinander – wurden durch diese Entdeckungsreise ermöglicht. Wie überhaupt es als Glücksfall zu werten ist, dass eine derart gut zusammenspielende, stets hilfsbereite und flexible Reisegruppe anzutreffen war. Das war auch ein Verdienst des Reiseleiters, der mit der hier erforderlichen Improvisationsfähigkeit, einem faszinierenden Kenntnisreichtum und einem, durch persönliches Engagement gewonnenen Erfahrungsschatz aufwarten konnte.

Heribert Kohl war Teilnehmer der Kosovo-Reise im Juli 2009. Er ist freiberuflich als Berater und Trainer vor allem in Mittelost- und Südosteuropa tätig – mit eigenem Büro für wissenschaftliche Publizistik und Beratung, Erkrath (BwP).