Reisebericht Moskau 2014: Wiedersehen mit Moskau

Regine Haug besuchte Moskau erstmals nach 20 Jahren wieder - mit der taz

Unter russischer Flagge - mit dem Boot durch die Stadt Bild: Gaby Coldewey

Wir (Roland und Regine Haug) hatten uns für eine außergewöhnliche Moskau-Reise entschieden. Nach vier Jahren Moskau von 1990 bis 1994 – Roland Haug war in dieser Zeit als Korrespondent in Moskau - mit dem Erlebnis des Untergangs der UdSSR (Ende 1993) wollten wir – die aktuellen russisch-ukrainischen Verhältnisse vor Augen - wieder nach Moskau reisen.

Ein Angebot der Berliner Tageszeitung taz weckte unser Interesse. Es sollte keine touristische Reise sein – dazu hatten wir ja schon viele Jahre Zeit gehabt, dieses Riesenland zu entdecken und natürlich auch Moskau und seine Randgebiete. Nein, wir wollten Informationen und Themen der Gesellschaft, der Politik und der Lebensqualität in der 12-Millionen-Stadt im Jahren 2014 kennen lernen und uns mit neuen Oppositions-bewegungen vertraut machen. Außer uns, als einzige Stuttgarter, waren noch sechs weitere Personen dabei, aus Mönchengladbach, Bonn, Regensburg, Augsburg und Erstfeld in der Schweiz. Acht Personen waren also zu dieser Reise in die Zivilgesellschaft gekommen, die die taz zusammen mit dem Berliner Reiseveranstalter Ventus-Reisen organisiert. Nach dem Flug von Frankfurt nach Moskau landeten wir auf dem Flughafen Domodedowo gegen 16 Uhr russischer Zeit.

Moskau empfing uns mit strahlender Sonne, einer deutschsprachigen russischen Reiseführerin und taz-Reiseleiter Bernhard Clasen, Russland-Korrespondent (u.a. für die taz) und Dolmetscher aus Mönchengladbach, der seit 1989 mehrmals im Jahr nach Moskau reist. Er kennt aus erster Hand die Umwelt- und Menschenrechtsbewegungen sowie deren Bedrohungen vor Ort und schreibt darüber. Bernhard Clasen weiß, wo deutscher Atommüll lagert, wo erhöhte Krebsraten am Baikalsee vorkommen, von „Ehrenmorden“ an Frauen in Tschetschenien, von Fremdenfeindlichkeit in russischen Metropolen und Entwicklungen der russischen Oppositionsbewegung. Er empfing uns mit seiner Gitarre auf dem Rücken. Er ist ein hervorragender Sänger, sein Vorbild sind die beliebten Texte des berühmten sowjetischen Liedermachers und Lyrikers Bulat Okudschadwa. Eine sehr interessante Woche stand uns bevor.

Vom Stadtzentrum bis zum Stadtteil Ismailowo zu unserem-Hotel waren es ca. vierzig Kilometer. Geschwindigkeit sechzig Kilometer, auf Hauptstraßen achtzig. Ismailowo hätten wir nicht mehr wieder erkannt, wohl noch die großen Parks und Wälder. Während unserer Zeit in Moskau zwischen 1990 und 1994 war ich hier häufig. Hier fand der große Flohmarkt von Moskau statt. Die russischen Bürger verkauften damals ihr kostbares Sammlergut, um überleben zu können. In dem schönen Ismailowo hatte auch Zar Peter der Große seine Sommerresidenz.

Am 7. September begann unser Programm, nachdem wir noch am Ankunftsabend das Feuerwerk zum „Tag der Stadt Moskau“ hatten erleben dürfen. Unsere Gruppe sollte Moskau zu Fuß und mit der Metro erkunden. Nach den Metro-Fahrten und auf den vielen Übergangstreppen kam ich als älteste Teilnehmerin ganz schön ins Schwitzen. An einem Tag zählte ich 468 Stufen. Weniger waren es kaum. Und dann noch die langen Wege in der Metro zu den verschiedenen Linien …. In der Metro sah ich nur junge Menschen.Es war ein sagenhaftes Gehetze. Alte Menschen waren nicht zu sehen. Sie haben zwar ein Freiticket vom Staat für die Metro, aber einen Kaffee in Moskau können sie sich nicht leisten, der kostet nämlich 300 Rubel. Touristen bekommen für einen Euro z.Zt. 47,85 Rubel. (Stand September 2014)

Hektik unter der Erde - in einer Moskauer Metrostation Bild: Gaby Coldewey

Nach einem Besuch der Innenstadt mit schönen Jugendstilbauten und Geschäften war unsere erste Begegnung mit einem Atomphysiker und Vorsitzenden der bekannten russischen Anti-Atomgruppe. Am Abend trafen wir uns mit Klaus-Helge Donath, der seit 1990 für die taz als Korrespondent in Moskau lebt, in einem nordkoreanischen Lokal zum Abendessen. Es gab die interessantesten Gespräche und Diskussionen. Genau nach unseren Vorstellungen.

Am nächsten Tag, dem 8. September besuchten wir die Nicht-Regierungsorganisation (NGO) „Memorial“, die versucht, die stalinschen Repressionen aufzuarbeiten. Sie kümmert sich um Opfer von Repressionen und unterstützt Schulen. Auch die Heinrich-Böll-Stiftung hilft. Wir erfuhren aber auch, dass Putin diese Unterstützung durch westliche Länder nicht liebt.

Ein weiterer Rundgang führte uns zu den Gebäuden des ehemaligen KGB und heutigen Geheimdienstes. Es sind sehr große Häuser zur Ausbildung der Sicherheitspolizei und der Verwaltung des Geheimdienstes. Abendessen in der Innenstadt,anschließend Metrowandern und ins Bett.

Radioturm Schabolowka in Moskau Bild: Archiv

9. September 2014 – Heute fuhren wir mit einem kleinen Bus in die Stadt. Es stand eine Architektur-Rundfahrt im Programm. Ein Kunsthistoriker und Architekt begleitete uns und zeigte sehr überzeugend die Bauten des russischen Konstruktivismus, des Jugendstils und außerdem 25 Gebäude, die in keinem Reiseführer stehen, aber wegen ihrer ausgefallenen Bauweise Prunkstücke darstellen, z.B. das Melnikow-Haus. Zum Rundgang gehörten auch das heutige Jausa-Hospital der Familie Baschatow und der Radioturm in Schabolowka, dabei immer blauer Himmel und Sonne – wie schön!

Wir saßen zur Mittagszeit in einem Lokal. Plötzlich tauchten drei Kameraleute des Fernsehens auf. Was war los? Über den Mittelplatz schritten plötzlich zwei Damen, junge, schlanke, hübsche mädchenhafte Frauen, elegant gekleidet. Ja, wer ist denn das? Es waren die Pussy Riots live. Sie begrüßten hier ihrevielen Fans,denn auch nach ihrem Gefängnisaufenthalt sind Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina weiter für Menschenrechte aktiv. Sie wollen für Frauen im Gefängnis Erleichterungen und bessere Verteidigung erkämpfen. Nach einem Jahr Gefängnis wissen sie genau, wie und was bewegt werden muss. Sie sind auch weiterhin gegen den Präsidenten Putin und wollen denjenigen helfen, die in ihrem Land auf Freiheit verzichten müssen. Sie arbeiten auch für amnesty international. Unser Historiker hat einen guten Spruch getan: „Wenn Dein Kopf abgeschnitten ist, denke nicht an Dein Haar!“

Den Abend krönte ein Besuch in Winsawod, ein alternativer Treffpunkt der jungen Generation. Danach wieder Metrowandern und todmüde ins Bett.

Schmuckelement in einer Moskau Metrostation Bild: Gaby Coldewey

10. September 2014 – Heute war der Besuch in Skolkowo vorgesehen. Wir sollten etwas über die neue Architektur von Skolkowo erfahren und den Technopark besichtigen, der ein zweites Silikon Valley werden sollte, aber in der Korruption versandete. Dieser Besuch musste abgesagt werden, da es zurzeit keine Möglichkeit zur Besichtigung gibt. Es soll alles nicht so gut gelaufen sein.

Am Nachmittag hatten wir einen Besuch bei Greenpeace Russland auf dem Programm. Wir wurden von einer sportlichen jungen Frau abgeholt, die zu unserem Treffpunkt mit einem Tretroller kam, den Verkehrsregeln angepasst, im Moskauer Stau ein tolles Verkehrsmittel. Fahrräder sind zu gefährlich - zu unfallträchtig mit den vielen Autos. Hier bekamen wir wieder einen englischsprachigen Vortrag und eine große Bilderschau mit der Thematik Ölbohrungen in der Arktis. Auffällig, in den Büros standen überall Tretroller.

Anschließend besuchten wir die Redaktion der einzigen in Russland noch existierenden oppositionellen Tageszeitung „Nowaja Gazeta“. Vor dem Eingang sahen wir eine Bronzeplastik von der 2006 in Moskau ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, die auch für die Nowaja Gazeta geschrieben hatte. Sechs weitere Reporter der Zeitung wurden ebenfalls ermordet. Die Redakteurin Nadeschda Prusenkowa erzählte über ihre Arbeit und unser Dolmetscher war wieder im Einsatz. Wir stellten immer wieder Fragen und sahen die Vitrinen mit vielen Preisen, welche die Redaktion wegen außergewöhnlicher Berichterstattung international schon erhalten hat. Am Abend wieder ein Treffen mit taz-Korrespondent Klaus-Helge Donath.

11. September 2014 – Heute stand als erstes der Besuch der Heinrich-Böll-Stiftung auf dem Programm. Ein sehr aktuelles Thema, wie da die westliche Politikstiftung nach der neuesten russischen Gesetzgebung existieren kann. Wie steht die russische Gesellschaft dazu? Die Heinrich-Böll-Stiftung ist seit 25 Jahren in Moskau und arbeitet für Demokratie und Menschenrechte. Seit 15 Jahren ist „Memorial“ der wichtigste Partner für Aktionen und Projekte. Die Stiftung sucht auch nach Namen von Soldaten, die in der Ukraine gefallen sind. Danach forscht auch „Memorial“. Für immer neue Schwierigkeiten müssen immer neue Strategien entwickelt werden. Es kommt zu immer neuen Verboten. Warum? Inzwischen hat die „Memorial“ aber auch Kontakte zur Zivilgesellschaft aufgebaut, das war lange nicht so. Die Böll-Stiftung bezieht ihr Geld nur aus Deutschland. Sie unterstützt die Ausbildung von Frauen im Nord-Kaukasus und Sommerschulen in Sankt Petersburg und Moskau. Es werden Dokumentarfilme gezeigt und Schriftsteller aus der ehemaligen DDR erzählen über Stasi-Akten. Für die Mitarbeiter ist täglich kluges Handeln erforderlich, da die Angst vor der Schließung immer gegenwärtig ist.

Nach der Diskussion kam die Begegnung mit der Gerichts- und Comiczeichnerin Viktoria Lomasko in der Böll-Stiftung. Sie ist Feministin und zeichnet im Gericht Protestbilder der Verhandlungen. Sie ist eine bekannte Grafikerin und hat seit 2012 für viele Prozesse und Verfahren gearbeitet, u.a. für Chodorkowskij, Lebedew und Pussy Riot. Seit zwei Jahren ist das Interesse an Prozessen auch wieder größer. Wir haben eine Dokumentation ihrer Zeichnungen in einem Videofilm gesehen. Außerdem hat der Verlag Matthes & Seitz in Berlin die deutsche Ausgabe eines Buches von ihr und dem Journalisten Anton Nikolajew herausgebracht: „Verbotene Kunst: Eine Moskauer Ausstellung. Gerichtsreportage“

Gutshaus in Abramzewo Bild: Archiv

Am Nachmittag ging es mit einer Vorortbahn, der Elektritschka, nach Abramzewo,einer Künstlerstadt. Nach einer sehr lauten Fahrt erreichten wir mit einem Waldspaziergang unser Ziel. Wir besuchten das Herrenhaus und Museum der Familie Mamontow. Vor Ort eine Führung in deutscher Sprache. Dekorierte schöne Holzmöbel, Bilder und Sammlerstücke der reichen Familie, die das Museum von den vorherigen Besitzern des Herrenhauses, der Familie Axakow, gekauft hatte. Zurück zum Zug nahmen wir den Minibus. Am Abend nochmal ein Treffen mit taz-Korrespondent Klaus-Helge Donath. Wir führten Tischgespräche über die Erlebnisse der Woche.

12. September 2014 – Endlich ausschlafen. Einige gingen noch auf den Roten Platz, wir nicht. Koffer packen, etwas einkaufen, sonst nichts. Abfahrt vom Hotel um 14.30 Uhr zum Flughafen Domodedowo. Dazu standen wir im Mega-Stau, diesmal wegen einer Riesen-Baustelle. Wir brauchten für vierzig Kilometer mehr als zwei Stunden. Ich fühlte mich vor allem körperlich überanstrengt, da wir mit über 70 die Ältesten waren. Nur mein Kopf fühlte sich sehr wohl, er war vollgestopft mit neuen Erkenntnissen.

Blick auf den Kreml Bild: Gaby Coldewey

Zum Schluss muss ich unbedingt über Moskau-City berichten. Sie steht als das neue Zentrum hinter Krasnaja Presna, dem ehemaligen Arbeiter-Aufstandszentrum der Revolution von 1905. Von allen Stadtteilen aus ist die City zu sehen, weil sie alle anderen Bauwerke hoch überragt. Man denkt nicht mehr an Moskau, sondern an Dubai und Abu Dabi. Für mich ein glitzerndes Diamantenzentrum. Leider ist es trotz riesiger Märkte und Kaufhäuser ohne Menschen oder Käufer. Es gibt leere elegante Bars, Konferenzräume und Restaurants. Ob es Wohnungen in den monströsen Gebäudeformen gibt, habe ich nicht eruiert, eben weil keine Leute da waren. Es wird aber noch weiter gebaut.

Für die Menschen am Rande des Molochs wünsche ich mir, dass sie noch eine Datscha haben und dort mit ihrer Familie zusammen leben. Im Stadtzentrum bestimmen, wie heute überall, junge Menschen das Bild, der Knopf im Ohr ist selbstverständlich.

20. September 2014, Regine Haug