Rekord bei tödlichen Angriffen: Schwarzbären versetzen Japan in Angst und Schrecken
Seit Juli haben Bären in Japan 13 Menschen getötet und über 200 verletzt – so viele wie nie zuvor. Grund ist ein gestörtes ökologisches Gleichgewicht.
Viele Studenten in Morioka wagen sich nur noch mit Bärenglöckchen am Rucksack auf den Campus der lokalen Universität, seitdem ein Schwarzbär dort in der vergangenen Woche herumspazierte. „Am nächsten Tag hatten wir bärenfrei, der Unterricht fiel aus“, berichtet Frank Schwamborn. Bei der Gartenarbeit trägt der Professor für Germanistik immer ein Bärenspray mit sich, sein Privathaus grenzt an einen Bergwald. Vor drei Wochen lief ein Schwarzbär seine Wohnstraße entlang. Eine Warn-App auf dem Smartphone seiner Frau informiert Schwamborn über neue Sichtungen von Bären in der Umgebung.
Seine Angst ist berechtigt. Seit Juli haben Bären 13 Menschen getötet und über 200 verletzt, so viele wie nie zuvor. Die Tiere hielten sich stunden- oder tagelang in Bahnhöfen, Schulen, Supermärkten und Tempeln auf. Das erste Opfer war eine 81-Jährige, die man tot in ihrer Küche fand, der Körper übersät mit tiefen Krallenwunden. Danach starben Bauern, Wanderer und Pilzsammler, aber auch Passanten auf offener Straße. Zuletzt häuften sich die Angriffe, da die Tiere vor dem Winterschlaf intensiver nach Futter suchen.
In dieser Woche setzte die Regierung erstmals das Militär nach Nordjapan in Marsch. Im bergigen, dicht bewaldeten Akita und der Nachbarprovinz Iwate mit der Hauptstadt Morioka fanden zwei Drittel der tödlichen Attacken statt. In Akita versechsfachten sich die Sichtungen von Bären, sodass der Gouverneur nach der Armee rief. Die Soldaten transportieren Jäger zum Einsatz, stellen Fallen auf und schaffen die erlegten Bären weg. Selbst schießen dürfen sie nicht. Die Polizei soll nun den Umgang mit Gewehren lernen, da ihre Pistolen gegen Bären wenig ausrichten. Die Regierung lockerte das Waffengesetz, damit Jäger auch in Städten schießen dürfen. Einige Gemeinden stellten Elektrozäune und lärmende Roboter in Wolfsgestalt mit rot glühenden Augen auf.
Die zahlreichen Attacken deuten auf ein gestörtes ökologisches Gleichgewicht hin. Die Zahl der Tiere hat sich binnen 30 Jahren auf 45.000 Schwarz- und 12.000 Braunbären ungefähr verdoppelt. Der bis zu 130 Kilogramm schwere Schwarzbär, der den Norden der Hauptinsel Honshu bevölkert, erweist sich als besonders aggressiv, die deutlich größeren Braunbären leben meist in Schutzgebieten auf der Nordinsel Hokkaido.
Weniger Pflanzenfressi für Bären
Die Allesfresser ernähren sich von Wildschweinen, Ziegen und Rehen und halten dadurch deren Zahl unter Kontrolle, Wölfe gibt es in Japan nicht. Bären fressen auch Pflanzen. Aber in diesem Jahr trugen die Bäume viel weniger Eicheln und Bucheckern, vermutlich bedingt durch den Klimawandel.
Währenddessen überließ der Mensch den Bären mehr Lebensraum. Als Folge der Landflucht wird die Übergangszone zwischen Dörfern und Bergwald, Satoyama genannt, nicht mehr bewirtschaftet. Die Früchte auf vielen Kaki-Bäumen werden nicht mehr gepflückt, was die Bären an die Stadtränder lockt. Durch die vermehrten Kontakte verlieren die Bären ihre natürliche Scheu vor den Menschen. In Morioka fließen drei Flüsse zusammen. Bei ihrer Jagd auf Lachse dringen die Bären inzwischen ungeniert bis ins Stadtzentrum vor.
Lange hielten Hobbyjäger die Population in Schach. Aber ihre Zahl ist in vierzig Jahren um fast 90 Prozent auf 56.000 geschrumpft, zum einen durch die rapide Alterung der Bevölkerung, zum anderen durch die miserable Bezahlung. Eine Gemeinde in Akita zahlt einem Jäger für das Aufstellen der riesigen Fallen und Bärpatrouillen nur 17 Euro pro Tag und für jeden erlegten Bär inklusiv Zerlegen nur 57 Euro. Die Benzinkosten und die Gewehrpflege müssen die Jäger selber tragen. „Ich mache das nicht fürs Geld, sondern um den Menschen zu helfen“, sagte ein Jäger dem TV-Sender Asahi.
Japan lebt seit Jahrhunderten mit der Bärengefahr. Aber eine Tragödie vor 110 Jahren prägte eine negative Einstellung der Bevölkerung und festigte eine tief verwurzelte Abneigung gegen Bären, meint der Japanologe Rotem Kowner von der Universität Haifa. Ein Braunbär tötete 1915 innerhalb weniger Tagen sieben Bewohner eines Dorfes in Hokkaido und lieferte den Stoff für viele Nacherzählungen.
Die aufgeregten Medienberichte über Bärenangriffe in diesem Jahr scheinen diese Urangst wiederzubeleben. Die Behörden überschlagen sich mit Verhaltenstipps. Wanderer sollten mit Glöckchen und Taschenradios Lärm machen und Kinder bei einer Begegnung eine leere Plastikflasche zusammenknüllen, um die Tiere zu vertreiben. Kommt es zum Kampf, sollte man sich flach auf den Boden legen und den Kopf mit Händen und Armen schützen.
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