Rennsteiglauf im Thüringer Wald: Am Kamm lang

17.000 Läufer joggen Samstag über den Höhenweg des Thüringer Waldes. Der Rennsteiglauf ist ein Relikt aus DDR-Zeiten, aber ein höchst lebendiges.

Das Feld der Marathonläufer setzt sich in Bewegung

Start der Marathonläufer in Neuhaus (Achivbild von 2012) Foto: imago/Viadata

SCHMIEDEFELDE taz | Der Rennsteiglauf, der größte Crosslauf in Mitteleuropa, zählt zu den beliebtesten Landschaftsläufen in Deutschland. Über 17.000 Starter aus dem In- und Ausland haben sich für die 47. Auflage am Samstag auf sieben verschiedenen Lauf- und Wanderstrecken im Thüringer Wald angemeldet; auch für Menschen mit Handicap gibt es verschiedene Angebote. Antritts- oder üppige Preisgelder werden beim Rennsteiglauf bis heute nicht gezahlt. Die Königsdistanz führt dabei über 73,9 Kilometer vom Marktplatz in Eisenach in den zentralen Zielort Schmiedefeld.

Auch der Marathon (42,2 Kilometer) vom Startort Neuhaus ist ein harter Kanten. Die meisten Läufer begnügen sich indes mit dem Halbmarathon (21,2 km) von Oberhof nach Schmiedefeld, weshalb das Teilnehmerlimit aus organisatorischen Gründen dort auf rund 8.000 begrenzt ist.

Über 1.700 ehrenamtliche Helfer sind im Einsatz. An den Verpflegungsstellen für die Läufer gibt es neben Obst traditionell auch Fettbrote, Haferschleim, Wiener Würstchen und an der letzten Verpflegungsstelle sogar Bier. Der Chef des Laufes, Marcus Clauder, sagt: „Wir sind der einzige Landschaftslauf unter den Top-Ten-Läufen in ganz Deutschland und bereits zum fünften Mal zum beliebtesten Marathon im deutschsprachigen Raum gewählt worden.“

Ein Slogan des Rennsteiglaufs lautet: „Das schönste Ziel der Welt, das steht in Schmiedefeld.“ Seit vielen Jahren gehört es zur Tradition, dass sich Läufer die Startnummer hinter die Autoscheibe kleben, um sich bereits auf der Autobahn zu erkennen zu geben.

Der einst beliebteste DDR-Breitensportklassiker hat nichts von seiner Faszination eingebüßt, im Gegenteil. Viele Läufer aus allen Bundesländern kommen seit dem Untergang der DDR alljährlich im Mai an den blühenden Rennsteig. Sie alle sorgen mit ihrer Teilnahme auch für wirtschaftliche Kontinuität und für zufriedene Mienen bei den Organisatoren.

Das war nicht immer so.

Die DDR-Sportführung – mit ihrem besonders unbeliebten DTSB-Präsidenten Manfred Ewald an der Spitze – hatte an dem Breitensportereignis kein allzu großes Interesse, zumal es Anfang der 1970er Jahre von Jenaer Studenten um den Orientierungsläufer Hans-Georg Kremer auf den Weg gebracht wurde. Weil die Unterstützung der DDR-Sportfunktionäre für die nichtolympische Disziplin Orientierungslauf immer mehr nachließ, sahen sich die Sportfreunde zur Eigeninitiative gezwungen. Sie wollten mit ihrer für damalige Zeiten spektakulären Idee auf den Orientierungslauf aufmerksam machen.

Aus Mangel an geeignetem Kartenmaterial in der DDR kam man bei der Suche nach passendem Terrain für einen Langstreckenlauf auf den markierten Höhenkammweg „Rennsteig“ im Thüringer Wald. Nach mehreren Anläufen absolvierte am 13. Mai 1973 das Gründer-Quartett, darunter Hans-Georg Kremer, im Laufschritt 90 Kilometer von Eisenach nach Masserberg – in knapp zehn Stunden.

An der Zweitauflage im Jahr darauf nahmen zwölf Athleten teil, durch Mundpropaganda waren es aber 1975 schon fast 1.000 Läufer. Die ehrenamtlich agierenden Organisatoren stießen an ihre Leistungsgrenzen. Trotz des massenhaften Zuspruchs blieb dem Lauf anfangs die Unterstützung durch den Vorstand des DTSB versagt. Sport-Chef Ewald sagte, er brauche keinen zweiten Wasalauf in der DDR. Für viele Breitensportler hingegen war es eine große Herausforderung, in der Gemeinschaft die eigenen sportlichen Grenzen auszuloten, fern jeglicher übertriebener SED-Propaganda.

Abenteuer und Kult

Die Veranstaltung wurde zunehmend zum Kult, aus der ganzen DDR pilgerten viele Hobbysportler alljährlich zum Rennsteiglauf. Die Nischenveranstaltung wirkte wie ein Affront zur offiziellen DDR-Meilenbewegung. Für den Thüringer Henner Misersky, er gehörte in den sechziger Jahren zu den besten DDR-Hindernisläufern, war der Rennsteiglauf „eines der letzten Abenteuer, das man in der DDR ausleben konnte“.

Überliefert ist auch, dass DTSB-Chef Ewald in Frauenwald, wo er nahe des Zielortes Schmiedefeld ein Ferienhaus besaß, einmal auf der Fahrt dorthin im Auto lange warten musste, weil just an diesem Tage der Rennsteiglauf stattfand und die Läufer Vorfahrt genossen. Er soll furchtbar getobt haben.

Misersky erinnert sich noch gut an die durch DDR-Braunkohlebriketts geschwängerte Nebelluft in den Tälern. Heute ist die Fernsicht vom Höhenkammweg durch die saubere Luft sehr viel besser. Unvergessen bleiben auch die Schlammschlachten bei Schneeregen im Mai auf dem Kammweg, der teils rücksichtslos als Transporttrasse für sowjetische Panzer in der DDR genutzt wurde. Einige dieser Fahrrinnen präsentieren sich dem aufmerksamen Läufer noch heute als Feuchtbiotope.

Die DDR-Sportartikelindustrie hatte damals für die Breitensportler nur minderwertiges Schuhwerk mit harten Sohlen anzubieten. Was dann zwangsläufig bei vielen zur Blasenbildung führte; in damaligen Läuferkreisen wurde dies auch scherzhaft als „Luftbereifung“ bezeichnet.

Trotz vieler Schwierigkeiten und Restriktionen – „Ausländer“ (abgesehen von sogenannten Gastarbeitern) durften laut Reglement zu DDR-Zeiten bis 1989 nicht teilnehmen, dazu zählten auch die Sportfreunde aus der Bundesrepublik – wurden diese Hürden durch pfiffige Einfälle öfters überwunden. „Die illegalen Teilnehmer aus Westdeutschland liefen mit der Startkarte eines DDR-Verwandten und verschwanden nach dem Zieleinlauf wieder gen Westen“, erinnert sich Laufmitbegründer Kremer.

Stasi mischte sich ein

Einige der früheren Stasi-Zuträger im Organisationsstab des Laufes waren noch viele Jahre nach dem Mauerfall tätig. Der langjährige Gesamtleiter des Laufes, Volker Kittel, war einst als Stasi-IM „Friedrich Jahn“ aktiv. Auch die Startanfrage von Hans-Jürgen Koch aus Kiel im Jahr 1988, der 33 Jahre zuvor mit der Familie in den Westen geflüchtet war, wurde durch Anweisung der Stasi von Sportfunktionären abgeschmettert.

„Das Wort Ausländer hat damals besonders wehgetan“, erinnerte sich der im thüringischen Suhl geborene Zeitzeuge Koch vor Jahren. Nach dem Mauerfall war Koch mehrmals beim Rennsteiglauf dabei, „wegen der herrlichen Landschaft und der herzlichen Kameradschaft unter den Teilnehmern“.

Zum 40. Lauf-Jubiläum im Jahr 2012 sorgte eine bemerkenswerte Stasi-Personalie für Kopfschütteln bei zahlreichen Läufern. Der im thüringischen Crock geborene Ex-Stasi-Hauptmann Manfred Witter aus Berlin, in der DDR im Mielke-Ministerium in der Abteilung „Terrorabwehr“ (die unter anderem auch die RAF unterstützte), damals zuständig für das Referat „Internationaler Terrorismus“, hatte zum Rennsteiglauf-Jubiläum ein Buch herausgegeben. In dem im Buch abgedruckten Grußwort dankte ihm die damalige Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht persönlich. Auch der damalige Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, Thomas Bach, hatte nichtsahnend ein Grußwort geliefert.

Prominente und Betrüger

Witter hatte zudem zahlreiche DDR-Sportstars für die Prominentenwanderung am Rennsteig gewonnen. Dass ein solcher Ex-Stasi-Offizier durch die Hintertür den Rennsteiglauf für seine Selbstdarstellung benutzte, fanden indes couragierte Sportler wie der Thüringer Henner Misersky einfach nur „skandalös“.

Aber auch Läufer sorgen gelegentlich für Unmut. Einige Betrüger wurden schon erwischt, die beim Supermarathon allen Ernstes abseits des Waldes ein Teilstück per Auto zurücklegten und danach wieder ins Rennen einstiegen. Zwanzig Athleten wurden 2018 wegen unsportlichen Verhaltens oder Verstoßes gegen die Wettkampfordnung mit der Streichung aus der Ergebnisliste bestraft. Sie haben offensichtlich nicht begriffen, worum es beim Rennsteiglauf geht.

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