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RenteDie einen leben länger und die anderen eben nicht

Manuela Heim

Kommentar von

Manuela Heim

Nach der Entscheidung zur Rente steht eine Reform des Eintrittsalters im Raum. Dabei gibt es handfeste Gründe für unterschiedliche Lebenserwartungen.

Das Ziel im Blick: Wer fit ist und lange lebt, hat mehr von der Rente Foto: Ramon van Flymen/imago

Z ur Rettung des Rentensystems wird dieser Tage auch wieder über einen späteren Renteneintritt diskutiert. Weil durchaus allen klar zu sein scheint, dass das pauschal kaum möglich ist – schließlich schafft es ein Teil der Menschen schon jetzt nicht bis zur Rente mit 67 – müsste der Rentenbeginn gekoppelt sein – an die Lebensarbeitszeit und Beitragsjahre, die Schwere des Berufs, die Lebenserwartung im Allgemeinen.

Solche Ideen stehen jedenfalls im Raum. Dass ganze Gruppen von Menschen in Deutschland nicht nur weniger Jahre arbeiten, sondern vor allem deutlich länger leben als andere, scheint dabei zu den Grundkoordinaten des Systems zu gehören. Tatsächlich sind aber die erheblichen Unterschiede in der Lebenserwartung ein Symptom für einen sozialen Missstand in unserer Gesellschaft.

Die Lebenswartung in Deutschland steigt zwar, aber sie liegt unter dem europäischen Durchschnitt – und das trotz Spitzenplatz bei den Gesundheitskosten. Die vergleichsweise niedrige Lebenserwartung kommt auch durch eine massive Ungleichverteilung von Gesundheit zustande. Manche Leute rauchen mehr, trinken mehr Alkohol, ernähren sich schlechter, haben Übergewicht, mehr Stress. In einer freiheitlichen Gesellschaft hat man die Wahl, wie man sein Leben gestaltet. Genau das lässt sich aber nur in einer Gesellschaft sagen, in der die Menschen vergleichbare Chancen auf eine für sie positive Lebensgestaltung und damit auf Gesundheit haben. Das ist Freiheit.

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Menschen, die von Geburt an über weniger Ressourcen verfügen, haben diese Freiheit nur, wenn die Gesellschaft es schafft, diesen Mangel durch Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik auszugleichen. Denn wie gesund ei­ne*r in Deutschland ist, das hängt neben kaum beeinflussbarer Genetik und individuellen Lebensereignissen vor allem an Bildungschancen, belastenden Arbeits-, Umwelt- und Wohnfaktoren, finanziellem Stress sowie der Zugänglichkeit und Qualität von Gesundheitsversorgung ab. Und diese Faktoren sind ebenfalls sehr ungleich verteilt.

In der vergangenen Woche haben der AOK Bundesverband und das Deutsche Krebsforschungszentrum einen neuen Public Health Index vorgestellt. Darin verglichen sie die Präventionspolitik in 19 europäischen Ländern in den Bereichen Alkohol, Tabak, Ernährung und Bewegung. Deutschland lag fast überall auf den letzten Plätzen.

Wenn man also feststellt, dass ganze Gruppen von Menschen in dieser Gesellschaft mit 67 oder sogar schon mit 60 Jahren so kaputt sind, dass sie im Gegensatz zu anderen keinesfalls noch länger arbeiten können, dann ist eine Unterscheidung beim Renteneintrittsalter nur ein sehr müder Versuch, einer Ungleichverteilung von Gesundheit gerecht zu werden. Wenn man zugleich feststellt, dass der Staat bislang entschieden zu wenig dagegen unternimmt, dann kann der richtige Schluss nur eine umfassende Strategie zur Förderung der öffentlichen Gesundheit sein.

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Manuela Heim
Gesundheit und Soziales
Redakteurin in der Inlandsredaktion, schreibt über Gesundheitsthemen und soziale (Un-) Gerechtigkeit.
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22 Kommentare

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  • Ich bin nie Arbeitslos gewesen. Bin sogar eine "Fachkraft". Das Gesundheitssystem nimmt meine Beiträge aber Leistungen gibt es für mich höchst selten. Wenn ich krank bin, muss ich Urlaub nehmen. Eine Krankschreibung bekomme ich höchst selten, wenn ich denn zum Arzt gehen kann. Ich bin mehrfachbehindert, der Ausbeutung schutzlos ausgeliefert und werde, sollte ich das Renteneintrittsalter noch erreichen, in Altersarmut enden.

  • Freiheit, Wirksamkeit, auch relative ziemliche Gleichheit, das kommt zur klassischen Gesundheit hinzu.

    Klassisch könnten wir dabei schon z.B. weniger ins Auto und mehr auf Schusters Rappen oder Sattel unterwegs sein. Wer etwa Kinder zum Sport mit dem Auto fahren will, sollte in vielen Fällen wohl kurz einhalten und denen lieber mal Radeln und Aufpassen beibringen. Die schaffen das. Und mensch selbst hat wieder ein bisschen mehr Zeit.

  • Bei den Drogenkranken sind es nicht die finanziell Schwachen der Gesellschaft. Und Todesalter hat auch viel mit genetischer Disposition und Zufall zu tun. Man kann eben nicht alles regeln, und Fairness ist eine Frage des Standpunkt, eine absolute Fairness gibt es nicht.



    Es ist ja gerade das Misstrauen des Staates und die Entmündigung der Entscheidung einzelner, die dazu führt, dass die Menschen heute für jeden Dreck eine Anleitung brauchen. Dass Alkohol schädlich ist, dass es eben keinen univerell gültige Glücksformel gibt, und dass Menschen (meistens) nicht für ihre Krankheiten verantwortlich sind, sollte jeder verstanden haben.



    Nicht mehr Verantwortung abtreten an den Staat und diesen aufblähen ist der richtige Weg, sondern den Menschen wieder klarmachen, dass sie selbst Verantwortung tragen. Dass der Staat sich hier überschätzt, kann man an explodierenden Sozialversicherungskosten erkennen. Wie sie ja schreiben, trotzdem sind wir Schlusslicht in Europa. Also weg mit dem Gedanken der Staat (eigentlich die Verwaltung) könnte das besser steuern, und endlich wieder mehr Selbstverantwortung; Staat nur zur Abfederung und Absicherung von unvorhersehbaren Risiken und Notfällen

    • @Monika Dietrich:

      Tatsächlich könnten wohl fast die Hälfte der Krebsfälle und neuen Studien zufolge auch bis zu 30% der Demenzerkrankungen durch bessere Lebensweise verhindert werden. Und dazu können Politik und Gesundheitswesen erheblich beitragen. Saubere Luft in den Städten wäre ein guter Anfang, Werbeverbot und höhere Preise auch für Alkohol, dafür mehr (und gern kostenlose) Vorsorgeangebote ein weiteres Ziel. Bei uns gibt es im Sommer zB Sport im Park, wo jeder kostenfrei und niedrigschwellig mitmachen kann. Auch von ärztlicher Seite könnte Sport mitverschrieben werden, zum Beispiel für Senioren, um deren Beweglichkeit und Balance zu fördern. Das mag erstmal kosten, kann aber Folgestürze vermeiden und Gehhilfen überflüssig machen und somit längerfristig Lebensqualität verbessern und dabei Kosten sparen. Und es wäre sicher nicht verkehrt, die MwSt auf "gute" Lebensmittel zu senken - dafür könnte man bei Luxusgütern mehr zulangen. Wir können und sollten die Leute nicht in bessere Lebensweisen zwingen - aber dafür sorgen, dass die Möglichkeit dazu besteht, und auch mit kleinem Einkommen leistbar ist, das liegt bei der Politik.

  • Dass rauchen ,Alkoholgenuss und Übergewicht nicht gerade zu einer positiven Lebenserwartung beiträgt weis doch jeder, unabhänhig vom Bildungsstand.



    Wer nicht raucht und wenig Alkohol trinkt spart zudem eine Menge Geld. Hier Verzicht zu üben kann jeder, unabhängig von Bildung oder Einkommen.

    • @Filou:

      Ich meine mal gelesen zu haben, dass die Reicheren mehr saufen (sie haben das Geld dafür). Dennoch leben sie im Schnitt länger.



      Inhaltlich auch bei Ihnen. Doch Rauchen macht wohl sehr rasch körperlich abhängig, da kann ich mangels eigener Erfahrung nur bedingt mitreden.

      • @Janix:

        Keine Ahnung wer mehr säuft oder raucht. Die Reichen brauchen sicher nicht aufs Geld zu achten, die weniger gut betuchten schon und diese Personengruppe könnte zusätzlich zur besseren Gesundheit sehr viel Geld sparen und dieses dann für nützliche Dinge verwenden.

        • @Filou:

          Lassen Sie es mich umformulieren:



          Die weniger Betuchten brauchen vielleicht einfach keine klugen Gesundheits-Ratschläge von Gruppen, die selbst mehr saufen, das bei sich aber ganz in Ordnung und natürlich finden.

  • Also soll der Staat mehr verbieten und regulieren? Hab ich das richtig verstanden?

    • @Mendou:

      Ja, warum auch nicht? Die individualistische Freiheit Einzelner muss sich ein Staat leisten können - und auch wollen.



      Die volkswirtschaftlichen Kosten von Übergewicht werden bei Statista mit 114,8 Mrd. $ jährlich angegeben, die des Rauchens mit 102 Mrd $. Diese Kosten trägt die Allgemeinheit und sind ein Grund für regelmäßige Beitragssteigerungen. Warum also nicht eine Zuckersteuer wie in GB oder die harschen Anti-Raucher-Gesetze von Mexiko (nur noch in den eigenen vier Wänden ist Rauchen erlaubt, die wenigen Raucherzonen können, müssen aber von den Gemeinden nicht eingerichtet werden) in betracht ziehen? Oder die jeweil zwei Stunden Schulsport pro Tag in mehreren chinesischen Regionen? Statistiker rechnen für die nächsten Jahrzehnte mit Einsparungen im Gesundheitswesen im zweistelligen Milliardenbereich - jedes Jahr.

  • Vielleicht überfordert man das Rentensystem etwas damit, wenn man erwartet das es auch noch Unterschiede in individueller Gesundheit, Lebenserwartung oder Stresslevel ausgleichen soll.



    Wie die Autorin ja richtig sagt, sind die meisten Faktoren, die die Gesundheit / Lebenserwartung beeinflussen entwder genetisch bedingt oder im indivduellen Verhalten begründet.



    Die hiesigen Arbeitsschutzregelungen sind auch auch sehr gut, so dass man in den meisten Berufen gut auf seine Gesundheit achten kann. Von wenigen Punkten vielleicht abgesehen, wie Schichtarbeit (Industriearbeiter, Krankenhausärzte etc.).

    • @T-Rom:

      Sagte die Autorin das so, oder hätte sie ihren Artikel Ihrer Meinung so reduzieren sollen?

    • @T-Rom:

      "Wie die Autorin ja richtig sagt, sind die meisten Faktoren, die die Gesundheit / Lebenserwartung beeinflussen entwder genetisch bedingt oder im indivduellen Verhalten begründet."

      Das passt wohl so nicht zu der Studie, denn danach hat Deutschland bei den höchsten Gesundheitskosten die geringste Lebenserwartung in den untersuchten Ländern. Es haben aber vermutlich nicht alle anderen Menschen in Europa bessere Gene und/oder verhalten sich gesundheitsbewusster.

  • Manche Menschen sind vom Staat regelrecht kaputt gemacht worden und die Möglichkeiten dazu sollen offenbar noch gesteigert werden. Seine eigene Baggage hingegen pampert der Staat bestens. Die ältesten der Alten, die ich kenne, sind alle pensioniert – und kommen sich auch finanziell bestens aus.

  • Wenn beim Renteneintrittsalter nach der potentiellen Länge der Bezugsdauer, also insbesondere nach der Lebenserwartung, unterschieden wird, werden Frauen viel später in Rente gehen können als Männer.

    • @Hoffmann Michael:

      Und das obwohl sie wesentlich mehr leisten müssen als Männer? Altersarmut ist jetzt schon weiblich, weil sämtliche Arbeit außerhalb des Angestelltentums nicht zählt, nicht wertgeschätzt und erst recht nicht vergütet wird.

    • @Hoffmann Michael:

      True, aber ein ziemlich unpopuläres Argument. Ich hatte bei dem Kommentar oben irgendwie das Gefühl, das wäre Vorwärtsverteidigung gegen genau dieses ('Männer sind ja, hormonell getrieben, risikobereiter, (auto)destruktiver und gehen seltener zum Arzt, also okay).

      • @EffeJoSiebenZwo:

        Unfallversicherungen berechnen die Beiträge zum Teil genau deswegen tatsächlich so.

  • Vielen Dank für diesen Artikel, der die Debatte in das richtige Licht rückt. Aufmerksamkeit gilt auch der geschlechtlichen Dimension des Problems: Männer sterben in Deutschland rund 5 Jahre früher als Frauen. Sie arbeiten mehr und in gefährlicheren Berufen, auch wird rund ein Fünftel weniger an Gesundheitsleistungen in sie investiert als in Frauen. Angesichts der Tatsache, dass es hauptsächlich Männer sind, die in das Rentensystem einzahlen, sie allerdings gemessen an ihrem Beitrag deutlich weniger bekommen, ist eine Diskussion über diese Ungerechtigkeit angebracht. Auch das gehört zu Geschlechtergerechtigkeit, möchte man sie denn ernst nehmen.

    • @Hage1975:

      Männer arbeiten vielleicht mehr in der Erwerbsarbeit, aber darüber hinaus leisten sie kaum was. Frauen gehen arbeiten, ziehen Kinder groß, pflegen Alte und müssen ihren Männern hinterherräumen. Trotzdem ist Altersarmut weiblich. Männer müssen in allen Facetten des Lebens endlich mehr beidteuern, wenn Gerechtigkeit herrschen soll.

    • @Hage1975:

      Danke. Ein Aspekt der bei der Gerechtigkeitsdiskussion leider immer zu kurz kommt. Und da nur junge Männer gemustert werden, könnte sich diese Ungerechtigkeit noch verschärfen.

      Ein weiterer Aspekt: Bei den ach so bösen Boomern ist die Lebenserwartung mit den aktuellen Daten mehr als 5 Jahre geringer als bei der Gen-Z, und war die Geburtenrate für Kinder der Boomer erheblich höher als der aktuelle Erwartungswert für die Gen-Z. Also müssten die perspektivisch noch deutlich höhere Rentenbeiträge bei gleicher Leistungserwartung zahlen, wenn es fair zugehen soll. Oder eben 5 Jahre länger arbeiten (was eher unrealistisch ist, der Gesundheitszustand verschiebt sich leider nicht wie die Lebenserwartung). Und da sie älter und vermutlich eher gebrechlicher werden, müßten sie auch signifikant mehr in die Pflegeversicherung einzahlen. Damit müsste die Gen-Z erst mal gegen sich selbst demonstrieren.

      Über allem sollte man aber nicht vergessen, dass Sozialversicherungen Solidargemeinschaften sind, und eben keine Geldanlage.

      • @Monika Dietrich:

        Die Lebenserwartung von Gen-Z und den Generationen danach werden in Rekordzeit fallen. Die Weltlage wird dafür sorgen. So schlimm das auch ist. Ich will gar nicht mehr in die Zukunft blicken.