Rentner erschießt Räuber: Wenn die Grenzen verschwimmen

Ein Rentner wird überfallen und schießt aus zwei Metern einem der Räuber in den Rücken. Die Staatsanwaltschaft spricht von Notwehr, die Familie des Räubers will Gerechtigkeit.

Die Eltern von Labinot kommen immer wieder an den Tatort zurück. Bild: Miguel Ferraz

NEUMÜNSTER/SITTENSEN taz | Wieder steht Familie S. an dieser Eiche. Wieder ist das gerahmte Foto am Fuß des Baums zersplittert, es zeigt einen lächelnden Jungen, knallgrünes Hemd, gegelte Haare. Drumherum haben sie Blumengestecke aus Plastik drapiert, und Grabkerzen. Die Mutter schluchzt, der Vater hat feuchte Augen, der Onkel schaut immer wieder zur Villa nebenan.

Dort, wenige Meter entfernt, ist ihr Labinot gestorben, mit 16 Jahren. Er war an einem Raubüberfall beteiligt und wurde auf der Flucht erschossen, von dem überfallenen Rentner, auf dessen Terrasse. Für den Schuss muss sich Ernst B. (77) nicht vor Gericht verantworten, sagt die Staatsanwaltschaft. Sie hat die Ermittlungen eingestellt: kein Totschlag, Ernst B. habe aus Notwehr gehandelt. Die Familie des Getöteten strebt jetzt ein Klageerzwingungsverfahren an. Die dafür notwendige Beschwerde hat ihr Anwalt gestern bei der Generalstaatsanwaltschaft eingereicht.

Es war in der frostigen Winternacht des 13. Dezember 2010, ein Montag, als Labinot S. mit vier Kumpels in die Villa von Ernst B. einsteigt, um Geld zu klauen. Millionen sollten dort lagern, so hatten sie es gehört.

Sie hatten sich maskiert für diesen Abend, der Renter war allein zu Hause. Den Tipp mit der Villa im niedersächsischen Sittensen hatten sie aus dem Rotlichtmilieu. Ernst B. verkehrt dort oft, eine Prostituierte lädt er immer wieder zu sich ein, er nennt sie "meine Freundin", schenkt ihr ein Mercedes-Coupé, ein Pferd und Schönheitsoperationen. Ihre Bekannte ist auch oft zu Gast, fotografiert die Villa mit ihrem Handy, gibt den jungen Männern Hinweise.

Verblutet im Schnee

Als Ernst B. an diesem 13. Dezember um 21.45 Uhr in den Garten geht, um seinen Hund zu füttern, greifen sie ihn. Sie zerren ihn ins Haus. Labinot und ein anderer Täter halten ihn auf einem Stuhl fest, die anderen drei suchen nach dem Safe mit den vermeintlichen Millionen. Plötzlich ein hohes Jaulen. Die Alarmanlage. Die Räuber geraten in Panik, fliehen über die Terrasse nach draußen in die Kälte. Dann ein Schuss. Ein zweiter. Beim dritten ein Schrei. Labinot trifft eine Kugel zwischen den Schultern, abgefeuert aus nur zwei Meter Entfernung. Das Projektil zerfetzt seine Hauptschlagader.

Labinot S. verblutet innerhalb weniger Minuten im Schnee.

Das Klageerzwingungsverfahren bietet dem Geschädigten bei Strafprozessen die Möglichkeit, die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gerichtlich überprüfen zu lassen. Er muss durch einen Anwalt innerhalb von zwei Wochen nach Einstellung Beschwerde einlegen, über die die Generalstaatsanwaltschaft entscheidet. Ist die Beschwerde erfolglos, kann innerhalb eines Monats eine gerichtliche Entscheidung beim Oberlandesgericht (OLG) beantragt werden. Das OLG kann nach Prüfung der Akten eine Anklageerhebung beschließen. Bundesweit ist die Erfolgsquote jedoch sehr gering.

So steht es in den Prozessakten. Der Prozess vor dem Landgericht in Stade kam vor drei Wochen zum Abschluss. Die vier übrigen jungen Männer, alle aus Neumünster, vorbestraft und zwischen 23 und 25 Jahren alt, wurden wegen räuberischer Erpressung und Körperverletzung zu Haftstrafen zwischen drei Jahren und sechs Monaten und vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Hinweisgeberin erhielt eine Bewährungsstrafe. Der Rentner Ernst B. hat vor Gericht geschwiegen, um sich nicht selbst zu belasten.

An jedem Verhandlungstag saß Familie S. im Gerichtssaal, jedes Mal sind sie anschließend zum Tatort gefahren, zu ihrer Gedenkstätte. Dass diese immer wieder zerstört war, hat sie nicht abgehalten. "Wir werden auch weiterhin kommen", sagt Naser Mirena, Labinots Onkel und mit seinen 53 Jahren der Familienälteste. Er ist es, der spricht, die Eltern möchten nicht reden. "Opa soll diesen 13. Dezember nie vergessen", sagt er. Er nennt Ernst B. nie beim Namen.

Früher am Tag, es ist ein Sonntagmittag Ende Juni, sitzt Familie S. zu Hause im schleswig-holsteinischen Neumünster im Wohnzimmer ihrer Dreizimmerwohnung. Kaffee und Kuchen stehen auf dem Tisch, in der Ecke ein raumhoher Zitronenbaum aus Plastik, auf dem großen Flachbild des Fernsehers gewinnt Sebastian Vettel gerade sein sechstes Formel-1-Rennen der Saison. Keiner schaut hin.

Sie fahren immer wieder an den Tatort

"Opa hat sich bisher mit keinem Wort bei uns entschuldigt", sagt Mirena, "er sollte sich schämen." Keiner hier kann begreifen, wie es zu dieser Nacht, zu dieser Tat kommen konnte, weder die Eltern noch die Geschwister, die Onkels, die Tante. Sie wissen nur eins: Der Opa ist schuld, dass ihr Labinot nicht mehr lebt, es ist alles, woran sie denken können. Warum wollte Labinot in die Villa einbrechen, einen alten Mann überfallen und Geld klauen? "Das war kein Klauen", sagt Mirena und hebt seine Stimme. "Lab hat einfach nur mitgemacht!"

Er spricht von falschen Freunden, an die der sonst so friedliche Labinot versehentlich geraten sei, von Fehlern, die man eben als Jugendlicher begehe, er sei doch so jung gewesen. "Sicher, er hätte bestraft werden sollen. Aber doch nicht getötet. Schlimm, so was." Das sagt er oft bei diesem Treffen, wenn ihm die Erklärungen ausgehen. "Schlimm, so was." Dabei holt er weit aus mit seinen Armen, das blaue Hemd und die Lederweste spannen sich über seinem Bauch. Dass sie mit der ganzen Familie immer wieder an den Tatort fahren, sagt er, dient nicht nur ihrer Trauer. "Opa soll seine Tat immer vor Augen haben, er soll sehen, was er angerichtet hat."

In Sittensen fährt ein Traktor an der Eiche vorbei - der Bauer guckt. Eine Nachbarin läuft am Straßenrand entlang, sie guckt. Drei Polizeiwagen kommen angerollt. Es war sehr viel Aufregung für dieses dörfliche Sittensen. Jedes Mal, wenn Familie S. zu ihrer Gedenkstätte fahren will, muss sie sich bei der örtlichen Polizei anmelden. In der reetgedeckten Villa von Ernst B. regt sich nichts, der Rasen ist frisch gemäht, im Teich spiegelt sich die Nachmittagssonne, auf der Terrasse steht ein Liegestuhl.

In der Nacht des 13. Dezember 2010 will Ernst B. laut eigener Aussage bei der Polizei Schüsse gehört haben, bevor er selbst zur Waffe griff. "Jedenfalls fiel dann ein Schuss, und ich habe gedacht, jetzt wird es ganz gefährlich und jetzt kannst du auch zur Waffe greifen", steht im Protokoll. Ernst B. ist Jäger, besitzt mehrere Waffen. Die, zu der er griff, lag geladen in seiner Nähe.

Entscheidende Fragen

Waren die jungen Männer bewaffnet und haben sie geschossen? Es sind die entscheidenden Fragen in diesem Fall, bei dem die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen. Die vier verurteilten Räuber haben im Prozess ausgesagt, sie hätten eine Softair-Pistole bei sich gehabt, diese aber im Handschuhfach ihres Autos gelassen. Die Beamten vor Ort stellten eine Woche nach der Tat eine weitere Waffe sicher, eine Gaspistole, in Terrassennähe, dort, wo die Leiche lag. Die Pistole ist auf den Namen des Rentners angemeldet. "Erst, als der Schnee getaut war, haben wir die Waffe gesehen", sagt Kai Thomas Breas, Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade. Patronenhülsen haben sie nicht gefunden.

Das Gericht konnte weder bestätigen noch ausschließen, dass die jungen Männer eine oder mehrere Waffen bei sich trugen. Die Staatsanwaltschaft geht dennoch davon aus, dass Ernst B. anfangs mit einer Waffe bedroht worden ist. "Unsere Entscheidung, die Ermittlungen einzustellen, bleibt davon aber unberührt", sagt ihr Sprecher Breas. "Entscheidend ist: Ernst B. wollte mit dem Griff zur Pistole sein Hab und Gut verteidigen."

Denn in der Jackentasche von Labinot S. wurde das Portemonnaie des Rentners mit mehr als 2.000 Euro gefunden. "Die Beute war noch nicht sichergestellt, der Raub zum Zeitpunkt der Schüsse also gegenwärtig", sagt Breas. Und weil der Rentner nach einer Knie-Operation an Krücken ging, sei er berechtigt gewesen zu schießen. Dass er seine Pistole nicht im Waffenschrank aufbewahrte, wie es das Waffengesetz vorschreibt, erfülle noch keinen Straftatbestand.

Thomas Kämmer, Rechtsbeistand der Familie des getöteten Jungen, sieht in den Schüssen des Rentners keinen Akt der Notwehr. Für ihn grenzt der Fall an Selbstjustiz; dass es zu keiner Anklage komme, sende eine fatale Botschaft. "Das sagt doch: Wenn ihr überfallen werdet auf eurem Grundstück, dann dürft ihr schießen."

Die Geschichte erhitzt die Gemüter - auch im Internet. Auf Seiten wie "Politically Incorrect" lassen sich Kommentatoren seit Monaten immer wieder aus. "Der alte Mann, der sich verteidigt hat, ist absolut im Recht. Den einzigen Fehler, den er gemacht hat, er hat die Magazinkapazität nicht ausgenutzt", schreibt Timpe10. Und derzurechtweiser: "Wir haben genug Probleme mit unseren eigenen (paar) Verbrechern. Da brauchen wir nicht noch importierte Horden, die noch dazu delinquieren."

Geflohen aus dem Kosovo

Die Familie S. stammt aus dem albanischen Kosovo, sie war zu Beginn der 90er Jahre während des Balkan-Krieges geflohen. Die Kinder sind alle in Deutschland geboren. Im Auto nach Sittensen sagt Onkel Mirena dann plötzlich: "Wenn die Justiz versagt, mache ich auch Selbstjustiz." Was er damit meint? "Das werden wir dann sehen." Er macht eine Pause. Dann rudert er zurück, "keine Angst", er spreche hier nicht von Blutrache, wie sie im Kosovo noch immer üblich sei.

Mirena sagt, er kontrolliere seine Kinder jetzt noch mehr als vorher, jeder neue Freund muss sich bei ihm vorstellen. "Bei einer Zigarette kann ich schon feststellen, ob ein Mensch gut ist oder schlecht", sagt er. Es klingt wie die Bankrotterklärung eines Mannes, der für ein überkommenes patriarchalisches System steht. Der gewohnt war, dass ihm die Jugend uneingeschränkt Respekt zollt.

Labinot, mit einem Hauptschulabschluss auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz, hatte sich abgeschottet in den letzten Monaten vor dem Überfall, von seinen Eltern, seinem Onkel und den zwei Brüdern, mit denen er sich das Zimmer teilte. Er prügelte sich, raste mit dem Mofa durch Neumünster. Es kam zu ersten Überfällen, Sozialstunden im Tier- und Altersheim folgten. Nun liegt er im Familiengrab, im Kosovo.

Am Morgen nach der Tat, es ist der 14. Dezember, will seine Mutter Labinot wecken, er soll aufstehen und los, zu seinen Sozialstunden. Labinot liegt nicht in seinem Bett. Seine Brüder haben ihn nicht gesehen. Sie ruft seine Freunde an, keiner weiß etwas. Später am Tag surft seine Schwester im Internet, sie stolpert über eine Schlagzeile: "16-jähriger Räuber aus Neumünster bei Überfall erschossen."

Eine Stunde später klingelt die Polizei an der Haustür. Ob sie für einen Moment reinkommen dürfe.

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