Richard Fords Roman „Frank“: Wie man seine Narrative klarkriegt

Ist der US-Amerikaner Richard Ford der beste lebende Schriftsteller überhaupt? Nun ist sein neues Buch „Frank“ erschienen.

Eine Hand hält ein Foto

Nicht nur ihre Häuser müssen die Menschen nach einem Hurrikan reparieren, sondern auch ihr Leben Foto: Reuters

Es ist ein Sonntag im Oktober, die Herbstsonne lässt die Blätter der Akazie, die vor dem Arbeitszimmer steht, sattgelb aufleuchten. Im Wohnzimmer stehen Sonnenblumen in der Vase. Und neben Richard Fords neuem Buch, „Frank“, liegen drei kleine Kürbisse auf dem Schreibtisch, einer ist länglich, zwei sind rund, einer der runden gelb mit dunkelgrünen Maserungen, der andere runde Kürbis orange.

„Frank“ ist das vierte Buch, das Richard Ford über seine Jedermannfigur Frank Bascombe geschrieben hat. Alle vier setzen so ein, mit einer atmosphärischen Schilderung. Während ich am Tisch mit dem Buch, dem Laptop und den Kürbissen sitze, denke ich darüber nach, ob ich Richard Ford tatsächlich für den besten lebenden Schriftsteller halte (wie ich das manchmal glaube) – und wie man das erläutern kann.

Tatsächlich, wie erläutert man das? Vielleicht ja mit einem Beispiel für seinen abgründigen Humor, das zugleich als Hinweis auf seine handwerkliche Sorgfalt stehen kann. Aus vier miteinander verknüpften Geschichten, Ford selbst nennt sie Novellen, besteht „Frank“.

In der zweiten wird Frank Bascombe von einer Frau besucht, die in dem Haus, in dem er jetzt wohnt, aufgewachsen ist. Die beiden reden miteinander in der Küche, eine seltsame, leicht bedrohliche, geisterhafte Stimmung ist in dem Gespräch, offenbar ist in dem Haus früher etwas vorgefallen.

Notlösungen der Übersetzung

Richard Ford hat diese Geschichte meisterhaft als Suspense-Story angelegt. Die Nachricht, was in dem Haus vorgefallen ist, zögert er immer wieder hinaus, indem er kleine Episoden davorschiebt. So muss Frank Bascombe, kurz bevor das Geheimnis gelüftet wird, beinahe, nun ja, furzen; Richard Ford ist ein Meister darin, das Hohe und das Niedere miteinander zu verknüpfen. Auch in seiner Sprache.

Den Beinahefurz beschreibt er in einem akkuraten, beinahe klassischen Satz, der einem Henry-James-Roman zur Ehre gereicht hätte. Und dann kommt gleich das wirklich komische Wortspiel, dass Frank Bascombes Sohn solche Zustände, als er klein war, als „fartational“ bezeichnet hat. Wie Ford in dieser Geschichte die Balance zwischen Tragik, Trauer und schierem Slapstick hält, das ist schon große Kunst.

Wie Ford in dieser Geschichte die Balance zwischen Tragik, Trauer und schierem Slapstick hält, das ist schon große Kunst.

Im englischen Original wirken der Satz wie auch das Wortspiel um einiges intensiver als in der deutschen Übersetzung. Frank Heibert hat sich als deutsches Äquivalent das Wort „furzativ“ ausgedacht. Wahrscheinlich kommt man bei dieser dichten, alle möglichen Tonlagen zwischen Hochkultur und Alltagsgerede einfangenden Sprache, wie Richard Ford sie beherrscht, um solche Notlösungen nicht herum.

Struktureller Rassismus

Worauf die Geschichte hinausläuft, möchte ich nicht verraten. Nur so viel: Neben der Spannung und der Komik lässt Richard Ford auch das Drama einer schwarzen Familie aufleuchten, die in den sechziger Jahren in einen bis dahin rein weißen US-amerikanischen Vorort gezogen ist.

Richard Ford selbst wurde 1944 in den Südstaaten, im Bundesstaat Mississippi geboren. Er kennt strukturellen Rassismus, bezeichnet ihn im Gespräch ohne Umschweife als „Verbrechen“ und gestaltet seine Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Menschen in allen Frank-Bascombe-Büchern sehr subtil. So wie er auch die Rolle der Gewalt im US-Alltag wie nebenbei mitlaufen lässt. Wer sich vornimmt, ein glaubwürdiges Gesellschaftsporträt zu zeichnen, sollte sich Richard Ford zum Maßstab nehmen.

Richard Ford: „Frank“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Hanser.Berlin, Berlin 2015, 224 Seiten, 19,90 Euro

Seine Bedeutung als Autor erläutern lässt sich auch mit der großen Sensibilität, mit der er im Aufbau seiner Bücher Lesererwartungen steuern kann. „Frank“ setzt nach den Zerstörungen durch den Hurrican „Sandy“ an der amerikanischen Ostküste ein, Frank Bascombe selbst hat Glück gehabt, sein altes Haus direkt an der Küste hat er verkauft und ist ein paar Kilometer landeinwärts gezogen.

Aber natürlich lässt Richard Ford ihn, auch wenn Frank erst zögert, zu seinem alten Haus fahren und sehen, wie es, einfach weggepustet, aus seinem Fundament gerissen, hilflos auf der Seite liegt; das muss einfach sein, um die emotionale Wucht der Zerstörung klarzumachen.

Die Wörter mit großem Respekt behandelt

Frank Bascombes Fahrt zum alten Haus hat Richard Ford außerdem nicht nur sorgfältig motiviert, er nutzt sie auch für schnelle Porträts ehemaliger Nachbarn, wie Richard Ford ja überhaupt eine große Fertigkeit darin entwickelt hat, Begegnungen gleichzeitig beiläufig und bedeutsam erscheinen zu lassen. Und dann streut er auch noch Sätze ein, die in ihrem schillernden Bedeutungsfunkeln den Leser noch lange anblicken. „Denn letzten Endes ist die Liebe nicht bloß ein Ding, sondern eine endlose Reihe einzelner Handlungen“, heißt es am Schluss der dritten Geschichte in „Frank“.

An anderer Stelle überlegt Frank, was er für seine Mitmenschen tun kann: „help them get their narrative straight“ (das Original ist wieder viel kraftvoller als die Übersetzung). Über den unmittelbaren Zusammenhang weist das weit hinaus. Die Narrative klarkriegen – cooler, klarer kann man die Bedeutung von Schriftstellern nicht umreißen.

Vor ein paar Tagen war Richard Ford in Berlin. Wer sich mit ihm trifft, findet sich schnell in einem Gespräch über den Klang und den Hallraum einzelner Wörter wieder, sie haben für ihn eine Schwere, sozusagen einen Körper, er spricht etwa von ihrem „Auftritt auf der Seite“ (appearence on the page). Tatsächlich ist bei ihm jeder Satz so sorgfältig auf seinen Klang geprüft – man möchte sagen: die Sätze sind gehört –, dass der Text gleichzeitig lässig und kunstvoll orchestriert klingt. Man höre sich einmal an, wie Richard Ford liest. Der Text ist bis ins Letzte durchfühlt. Dieser Autor behandelt die Wörter mit großem Respekt.

Liebevoll und tapsig

Zugleich kann man sich mit Richard Ford gut darüber austauschen, wie konstruiert seine Bücher sind. Als Schriftsteller wird Ford ja schnell unter der Rubrik Realismus eingeordnet, aber wenn man genau hinsieht, ist dieser Realismus ein Effekt einer hoch bewusst vorgenommenen literarischen Collage. Neben seinem abgründigen Humor, seiner Verschränkung von Hohem und Tiefem sowie seinem absoluten Gehör für glaubwürdige Sätze ist sein Stilempfinden für literarische Konstruktionen von Wirklichkeit auch ein Punkt, der Richard Fords Bedeutung als Autor ausmacht.

So waren für das Entstehen des Buches nicht nur die Eindrücke der Auswirkungen des realen Hurricans „Sandy“ wichtig. Wichtig war auch ein kurzer, schlichter Satz: „Ich bin da!“ (im Original: I‘m here). Sioux-Krieger haben ihn 1862 gerufen, kurz bevor sie auf einem Schaugerüst erhängt wurden. Richard Ford ist vor ein paar Jahren auf die Anekdote gestoßen, hat sie in sein Notizbuch geschrieben und nun in dieses Buch eingebaut.

Wie man da sein kann, für sich, für andere, das ist das heimliche Thema, das alle vier Geschichten von „Frank“ zusammenhält. Nach dem Sturm müssen die Menschen nicht nur ihre Häuser reparieren, sondern auch ihre Leben. Franks Exfrau etwa lebt inzwischen mit Alzheimerdiagnose in einem teuren Pflegeheim, das zugleich ein Wohlstandsgetto ist. Wie Frank so liebevoll wie tapsig versucht, für sie da zu sein, und dabei froh ist, aus dem Heim wieder herauszukommen, ist unendlich rührend und unsentimental zugleich aufgeschrieben.

In solchen Szenen schlägt Richard Ford einen Bogen zurück innerhalb seines eigenen literarischen Kosmos. Nicht mit der Katastrophe selbst, aber mit ihren Auswirkungen und ihrem Nachbeben begann 1986 „Der Sportreporter“, der erste Roman um Frank Bascombe. Sein Sohn Ralph war gestorben, seine Ehe geschieden. Schriftsteller, wie er es ursprünglich einmal vorhatte, ist er auch nicht geworden. Seitdem muss dieser Frank Bascombe also das Beste aus einem Leben machen, das nicht so ist, wie er es sich einmal gewünscht hat.

Lange Gefühlsbogen

Man kann diesen Einsatz metaphysisch sehr hoch hängen. Die Katastrophe ist passiert, wir sind aus dem Paradies vertrieben, es gibt keine vernünftige Einrichtung der Welt, wir haben nicht mehr als uns selbst, unseren immer wieder labilen Alltag und vielleicht noch die Sprache, und müssen halt damit zurechtkommen, was mal besser und mal schlechter gelingt.

Die Größe Richard Fords macht aber erst aus, dass man das auch ganz konkret verstehen kann. Ganz am Ende von „Frank“ taucht sein verstorbener Sohn Ralph noch einmal in den Gedanken von Frank Bascombe auf, Gefühle beschreiben bei diesem Autor einen verdammt langen Bogen. Dann tauscht Frank mit einem Bekannten auf der Straße „ein paar gute Worte“, und es ist irgendwie okay, und das Leben geht weiter.

Ein paar gute Worte – wie schlicht das ist und wieder: wie tschechowartig tief zugleich. Mehr als gute Worte kann man von einem Schriftsteller nicht verlangen. Ist ja letztlich auch egal, wer der beste lebende Autor ist. Richard Ford jedenfalls ist ganz, ganz großartig.

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