Richter über Missbrauchsdebatte: "Der Sexualtrieb ist ein mächtiger Trieb"

Vor einem Jahr wurde der sexuelle Missbrauch von Schülern an Jesuiten-Gymnasien bekannt. Richter Uwe Nötzel kritisiert, dass die Missbrauchsdebatte undifferenziert geführt wird.

Unter dem Kreuz wird nicht nur Gutes getan - wie auch der Skandal um das Berliner Canisius-Kolleg zeigte. Bild: ap

taz: Herr Nötzel, als Vorsitzender einer Großen Strafkammer sitzen Sie über Sexualstraftäter zu Gericht. Gibt es Taten, die Sie noch erschüttern?

Uwe Nötzel: Ja, immer wieder. Man erhält tiefe Einblicke in die Psyche. Und das betrifft nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer.

Vor einem Jahr sind die Missbrauchsfälle an katholischen Jesuiten-Gymnasien bekannt geworden, betroffen war auch das Berliner Canisius-Kolleg. Ist die Welle schon in Form von Anklagen auf Ihrem Richtertisch angekommen?

Uwe Nötzel, 49, ist Vorsitzender der 39. Großen Strafkammer am Landgericht Berlin. Nach seinem Jurastudium hat er 1990 ein halbes Jahr in der Rechtsabteilung der Treuhandanstalt gearbeitet. Seit 1991 ist er Richter.

+ + +

40 Prozent der Taten, die vor der 39. Großen Strafkammer von Richter Nötzel verhandelt werden, sind Sexualdelikte. Die Angeklagten sind überwiegend Männer. In der Regel kommen die Täter aus dem familiären Bereich oder zumindest aus dem sozialen Nahfeld und haben eine gewisse Beziehung zu dem späteren Opfer gehabt. Die Opfer sind meist zwischen 5 und 13 Jahre alt. Manche Verfahren ziehen sich über Monate hin.

+ + +

Großer Medienandrang herrschte im Prozess gegen den 46-jährigen Uwe K. Der Fall hatte Wellen geschlagen, weil es dem einschlägig vorbestraften Mann nach seiner Haftentlassung 2007 trotz Polizeiaufsicht gelungen war, sich wieder Kindern zu nähern. K. hat nach Überzeugung des Gerichts in seiner Wohnung in Spandau zwei zehn- und elfjährige Mädchen vergewaltigt und eine 18-Jährige sexuell genötigt. Im September wurde K. von der Strafkammer unter Vorsitz von Nötzel zu zehn Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

+ + +

Vor einem Jahr hatte Pater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, mit einem Brief an ehemalige Schülerinnen und Schüler einen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche Deutschlands ausgelöst. Seitdem erfuhr der Jesuitenorden namentlich von 205 Schülern in ganz Deutschland, die Opfer von Missbrauch an Einrichtungen des Ordens geworden waren. Der Skandal erschütterte nicht nur die hiesige Kirche bis ins Mark, auch außerhalb der katholischen Kirche wurde eine umfassende Debatte über den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch diese Aufklärung angeregt. (taz)

Nein. Ich denke, das wird noch eine gewisse Zeit dauern.

Seither wird breit über sexuellen Missbrauch diskutiert. Hat die Debatte Ihrer Meinung nach etwas bewegt?

Da ist einiges in Gang geraten. Der Blick auf die katholische Kirche und pädagogische Einrichtungen hat sich verändert. Es gibt den runden Tisch für Vertreter von Opfergruppen, Kirche und Bundesregierung. Meine Empfehlung wäre, die Dinge etwas ruhiger anzugehen und keine vorschnellen gesetzgeberischen Lösungsangebote zu offerieren. Das geht bisweilen nach hinten los.

Worauf wollen Sie hinaus?

Die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch beginnt erst mit Volljährigkeit der Opfer - also dem 18. Lebensjahr - zu laufen. Es gibt ja die Forderung, die Fristen auszuweiten. Doch das würde vermutlich wenig ändern, weil die Aufklärungsmöglichkeiten im Laufe der Zeit immer schlechter werden. Die Dinge werden nicht leichter dadurch, dass sie jahrzehntelang verschüttet gelegen haben. Dazu kommt, dass die Diskussion zum Teil sehr undifferenziert geführt wird.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Man muss unterscheiden, ob ein Lehrer oder ein Geistlicher einem 13-Jährigen oberhalb der Kleidung an den Schritt gefasst hat. Oder ob schwere sexuelle Handlungen, Penetrationen oder dergleichen stattgefunden haben. In der Diskussion wird sehr häufig vieles vermengt.

Könnten Sie mal die Bandbreite der Missbrauchstaten skizzieren, mit denen Sie als Richter konfrontiert sind?

Es gibt schwere und weniger schwere Taten. Alles, was mit Penetration zusammenhängt, ist ein viel gravierenderer Eingriff in das Rechtsgut des Opfers, als beispielsweise Berührungen im Vorbeigehen. Auch auf die Länge des Tatzeitraums kommt es an. Handelt es sich um eine flüchtige Tat oder um einen Missbrauch von mehreren Jahren? Ist das Opfer tagtäglich oder in einem regelmäßigen Rhythmus missbraucht worden - zum Bespiel immer am Wochenende, wenn die Mutter Spätschicht hatte? Hatte es keine Chance zu entrinnen oder sich zu offenbaren? Manche Täter drohen ihrem Opfer ja: "Sagst du es der Mama, kommst du ins Heim." Oder: "Dann bringe ich deine Mutter um." Zum Teil sind die Opfer so jung, dass sie überhaupt nicht einordnen können, wenn es heißt: Das machen alle, die sich lieb haben.

Sie haben selbst Kinder. Spielt das in Ihrem Unterbewusstsein bei den Prozessen eine Rolle?

Ich kann ziemlich gut trennen. Das muss man als Richter auch. Andernfalls läuft man Gefahr, die Sachlichkeit und Unparteilichkeit zu verlieren. Allerdings ist ein Richter ein Mensch wie jeder andere. Dass sich durch die Hintertür vielleicht doch gewisse Gefühle einschleichen, kann niemand kategorisch ausschließen.

Darf ein Richter für den Angeklagten oder das Opfer Empathie empfinden?

Man sollte an den Fall so herangehen, dass man sich nicht festlegt, ob man überhaupt ein Opfer oder einen Täter vor sich hat. Das herauszufinden ist ja die Aufgabe. Dass jemand falsch belastet wird, kommt durchaus vor. Bei Kindern würde ich das weniger vermuten als bei älteren Personen. Eine Aussage ist ein scharfes Schwert. Bei Sexualstraftaten gibt es meistens keine unabhängigen Zeugen. Es ist also eine spezifische "Aussage gegen Aussage"-Konstellation. Der Bundesgerichtshof stellt sehr hohe Anforderungen an die Prüfungsdichte des Urteils. Das muss man als Strafrichter schon sehr gut begründen.

Wie kriegt man raus, ob jemand lügt?

Im Laufe der Zeit entwickelt man ein Gespür. Darauf allein kann man sich aber nicht verlassen. Wir stützen uns auf Methoden der Aussagepsychologie. Das ist wissenschaftlich verifiziert, es gibt dazu unzählige Veröffentlichungen und Fortbildungen. Natürlich muss man auf der Richterbank immer die eigene Fehlbarkeit und Unzulänglichkeit in Betracht ziehen. Man könnte sich einfach irren und damit das größte Unheil anrichten.

Hatten Sie schon mal das Gefühl, ein Fehlurteil gefällt zu haben?

Ich hatte schon öfters das Gefühl, wenn ich jemanden freigesprochen habe, dass der Angeklagte eigentlich schuldig ist. Aber entweder die Fakten reichen - oder sie reichen nicht. Das sind die Spielregeln: im Zweifel für den Angeklagten. Das sind die Errungenschaften des Rechtsstaats.

Also lieber zehn Schuldige freisprechen als einen Unschuldigen verurteilen?

Ich kenne keinen Kollegen, der dem widersprechen würde.

Ist es ein Strafmilderungsgrund, wenn der Angeklagte auf die Vernehmung des Opfers verzichtet und die Taten gesteht?

Das kann im Strafmaß unter Umständen einen erheblichen Unterschied bedeuten.

Bis zum Beginn des Prozesses haben Sie viel über den Angeklagten gelesen. Worauf achten Sie bei der ersten Begegnung im Gerichtssaal?

Das ist mit das Spannendste, wie sich eine Person, die man nur aus den Akten kennt, präsentiert. Wie der Angeklagte auftritt. Ob er einem in die Augen guckt. Wie er etwas erzählt. Wo er einen kleinen Haken schlägt, etwas auslässt oder mauert. Viele Angeklagten reagieren gar nicht. Das sind zum Teil sehr traurige Menschen, die ein Randdasein und ein Leben ohne Erfolge geführt haben. Ungeliebt und ausgestoßen. Manchmal verhandelt man tagelang, ohne den Angeklagten zu sehen: Er sitzt mit dem Kopf nach unten auf der Bank. Andere hingegen kommentieren verbal, mimisch und gestisch alles, was gesagt wird.

Gibt es eine bestimmte wiederkehrende Art, wie Angeklagte leugnen und bagatellisieren?

Es kommt durchaus vor, dass jemand eine Lebensbeichte ankündigt. Ob es wirklich eine ist, ist meist nicht so klar. Die große Linie ist, dass Angeklagte versuchen, Verständnis zu erwecken für eine doch hässliche Tat. Das ist menschlich.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Sexualtäter verschieben die Schuldanteile gern ein wenig auf die Opferseite. Etwa in der Art: "Das Kind hat sich immer zu mir auf die Couch gesetzt und wollte kuscheln. Dabei ist es dann aber nicht geblieben." Das ist keine seltene Verteidigungsstrategie. Es mag stimmen, dass es solche Situationen gab. Aber ein Erwachsener hat die Entscheidung zu treffen: Geht man darauf ein oder nicht.

Erleben Sie so was wie Reue?

Das Wort Reue höre ich im Gerichtssaal sehr oft. Es ist schwer, das zu gewichten. Und nach 20 Jahren forensischer Erfahrung neigt man ein bisschen zur Skepsis. Aber auch da muss man versuchen, als Richter innerlich gegenzuarbeiten. Vielleicht kann man es dem einen oder anderen doch abnehmen. Und das tue ich auch.

Suchen Sie nach Erklärungen für die Taten?

Die Hintergründe und Motive sind ein ganz wichtiger Punkt. Viele Angeklagte sind intellektuell gar nicht in der Lage, sich zu erklären. Teilweise handelt es sich um Männer, die große Schwierigkeiten haben, unter erwachsenen Frauen eine Sexualpartnerin zu finden. Sie sind dann auf Kinder ausgewichen, um ihre Sexualität auszuleben. Der Sexualtrieb ist ein mächtiger Trieb. Oder es handelt sich um Männer, die sich in der Welt der Kinder einfach besser zurechtfinden. Auch das ist nicht selten.

Und dann gibt es noch die klassischen Pädophilen, die im psychiatrischen Sinne krank sind.

Auch Pädophile sind grundsätzlich für ihre Taten verantwortlich. Aber viele Sexualtäter, über die wir verhandeln, sind keine Pädophilen im klassischen Sinne.

Bei der Urteilsverkündung im Fall des Sexualstraftäters Uwe K. haben Sie im September vergangenen Jahres gesagt: Der Angeklagte sei nicht als Monster aufgetreten. Gehen Ihnen solche Vergleiche auch in anderen Verfahren durch den Kopf?

Eigentlich nicht. Ich habe aber durchaus schon Angeklagte erlebt, die im Gerichtssaal überhaupt keine Gefühle erkennen ließen. Sie erschienen mir kalt und ohne jede Empathie. Teilweise stand das im Einklang mit ihren Taten.

Der Fall Uwe K. war in den Medien ein Dauerbrenner. Jetzt ereifert sich halb Berlin über eine kleine Gruppe von Sexualstraftätern, die nach jahrzehntelanger Haft aus der Sicherungsverwahrung freikommen soll. Inwieweit kann man sich als Richter davon denn noch freimachen?

Das ist eine Persönlichkeitsfrage, dafür gibt es kein Patentrezept. Die Medien durchdringen alles, auch das Privatleben eines Richters. Wir lesen Zeitung, hören Radio, sehen fern. Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Thema, das sich gut vermarkten lässt, weil es die Gefühlsseite der Menschen berührt. Mich ärgert die Berichterstattung häufig eher. Zu bedenken ist auch: Alle Statistiken sagen, dass die Zahl der Sexualdelikte seit Jahren zurückgeht. In derselben Zeit - seit 1997 - hat der Gesetzgeber den Strafrahmen mehrfach verschärft.

Können Sie nachvollziehen, dass sich Opfer - wie im Zuge der aktuellen Missbrauchsdebatte geschehen - erst Jahrzehnte nach den Taten offenbaren?

Zu entscheiden hatte ich als Richter solch einen Fall noch nicht. Ein restloses Vergessen und Verdrängen dürfte kaum gelingen. Zurück bleibt eine Narbe, die durch äußere Anlässe aufbrechen kann. Die Art und Weise, wie exponierte Vertreter betroffener Einrichtungen Anschuldigungen lässig vom Tisch wischen, mag auch ein Anstoß sein, sich zu Wort zu melden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.