Roman „Bärenzähne“: Aus dem richtigen Holz
Im Montana von Callan Wink ist das moderne Amerika ganz weit weg. Irgendwann sind es aber doch Banken statt Grizzlybären, die das Fürchten lehren.

Inhaltsverzeichnis
Eine Wildnis wie die Montanas kann man sich hierzulande eigentlich kaum vorstellen. Auf einer Fläche so groß wie Deutschland lebt zwischen Rockies und Prärie nur etwa eine Million Menschen – einsamer ist es nur in Alaska und im angrenzenden Wyoming und dort leben bekanntermaßen beinahe ausschließlich Bären.
Die Gebirgszüge, die den Bundesstaat im Südwesten durchziehen, tragen klangvolle Namen wie Crazy Mountains, Sweet Grass Hills oder Beartooth Range. Es ist eine Wildnis, in der man gut verschwinden kann, wenn man will, in der das Amerika der Gegenwart nie vollständig Fuß fassen konnte, so scheint es.
Nicht wenige Wildwest-Klischees haben in den heutigen Reservaten Montanas ihren Ursprung und befeuern Sehnsüchte vom modernen Leben ermüdeter Großstädter nach Autonomie, Abenteuer und Rugged Individualism. Und auch Callan Wink erzählt in seinem neuen Roman „Bärenzähne“ eine Story, die zunächst so manche arkadische Träumerei zu bedienen weiß.
Die beiden ungleichen Brüder Thad und Hazen leben off the grid, abseits des zivilisatorischen Koordinatensystem, in einer windschiefen Holzhütte am nördlichen Ende des riesigen Yellowstone Nationalparks. Sie jagen Elche und Bären, gehen Fliegenfischen, Holzfällen und zetteln gelegentlich Schlägereien in örtlichen Dive-Bars an.
Callan Wink: „Bärenzähne“. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Suhrkamp, Berlin 2025. 253 Seiten, 25 Euro
Der Vater vererbt Schulden
„Hast du schon mal drüber nachgedacht, dass die Welt untergehen könnte, während du hier draußen bist, und du kriegst überhaupt nichts davon mit?“, beschreibt Hazen diese Binnenexistenz, an der das wirkliche Amerika wie ein geteilter Fluss vorbeifließt. Doch mit dem Tod des überlebensgroßen Vaters findet das einfache Leben inmitten dieser Ansel-Adams-haften Idylle ein jähes Ende.
Denn wie so üblich im „Land of the Free“ hinterlässt der Vater nicht nur eine emotionale Leere, sondern auch einen unüberschaubaren Schuldenstand, und schnell sind es Banken und Anwälte statt Grizzlybären, vor denen sich Hazen und Thad fürchten müssen. Um ihr Elternhaus nicht zu verlieren, sehen sich die Brüder gezwungen, im Nationalpark wildern zu gehen sowie Geweihe und Kultobjekte indigener Kulturen zu stehlen, die man teuer an Zugezogene verkaufen kann – wenn man sich nicht von Parkrangern erwischen lässt.
Wink erzählt die Geschichte wie einen modernen Western: Es gibt einen großen Heist, berittene Widersacher, die ein oder andere Damsel in Distress. Es gibt neureiche Fremde, die an Öltycoons erinnern, einen zwielichtigen Wilderer und schöne Beschreibungen der überwältigenden Landschaft. Es gibt keine Handys, weder Hillary, Kamala noch MAGA, keine Demokraten und Republikaner, keinen 6. Januar, 7. Oktober, wohl aber den 4. Juli gibt es – aber auch nur, um etwas aus Jux in die Luft zu jagen.
Pastoraler Eskapismus also? Nein, denn wie die Literatur von John Steinbeck oder Cormac McCarthy ist „Bärenzähne“ auch eine präzise Milieustudie und beschreibt das Schicksal der weißen Arbeiterklasse, die über den Rand der Gesellschaft ins Nichts gestürzt ist. Mit beinahe 90 Prozent weißer Bevölkerung ist kaum ein US-Bundesstaat ethnisch so homogen wie Montana.
Das Ende der Montanindustrie hat große Teile der ländlichen Bevölkerung in wirtschaftliche Schwierigkeiten gestützt. Es sind die Menschen, die traditionell konservativ und meist gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen wählen, die für die politischen Eliten der Ost- und Westküste nach der Stimmabgabe unsichtbar werden und wie Thad nicht selten in die Opiatabhängigkeit getrieben werden.
Atemlos erzählt
Callan Winks Erzähltempo ist bisweilen rasant, manchmal scheint die Charakterzeichnung eher mit Thads schwerem Spalthammer als der feinen Klinge vorgenommen und manchmal fehlt den Antagonisten wie in einem Western von John Wayne nur noch der schwarze Hut zur korrekten moralischen Einordnung.
Und obwohl kurz, hat die Geschichte doch Längen, ist trotz der knappen Sprache nicht immer ausreichend erzählökonomisch gestrafft und Wink rettet den Plot vielleicht das ein oder andere Mal zu oft mithilfe eines Deus Ex Machina (Grizzlies! Bisonschädel! Mütter!). Vielleicht hätte sich der Roman kondensiert in eine Short Story oder eben als längeres Erzählwerk weniger atemlos gelesen. Denn auch das Ende wirkt ein wenig wegerzählt, als hätte sich der Autor vor einem zu drastischen Schluss geniert.
Eine gewisse Distanz zu den Protagonisten wird man nie richtig los und vielleicht hat das auch mit der Übersetzung des Texts zu tun. Thad und Hazen sprechen den selben Montana-Drawl wie Heath Ledger in „Brokeback Mountain“.
Es ist Sprache, die von einer Wildnis geformt ist, die es hierzulande schlicht nicht gibt, die sich als atemlose Kürze und Hemdsärmeligkeit in die Sprache der Menschen einschreibt – die wie bei Thad und Hazen auch zur Sprachlosigkeit führen kann, denn die beiden kommunizieren oft mittels Gewalt. Erst später wird klar, dass Gewaltlinien auch die Biografien ihrer Eltern durchziehen, Traumata, die angedeutet werden, jedoch die Oberfläche der Geschichte nie recht durchstoßen.
Kein Entkommen vor der Gegenwart
„Bärenzähne“ ist auf eine Weise ein Abgesang auf eine Lebensweise, die zwar längst von ökonomischen Realitäten eingeholt wurde, jedoch immer noch über große Wirkmacht im politischen und kulturellen Diskurs der Vereinigten Staaten verfügt: der Glaube daran, dass man es auf eigene Faust schaffen kann – solange man aus dem richtigen Holz geschnitzt ist. „Don’t tread on me“ heißt das dann, oder „Sic semper tyrannis“.
Callan Winks Geschichte zeigt, dass die moderne Tyrannei auch den letzten Fleck der Erde noch heimsuchen kann und es vor den totalen Zwängen der Gegenwart kein Entkommen gibt.
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