Roman über Migrationsbewegungen: Die unbekannte Familie

Francesca Melandris „Alle, außer mir“ ist ein großer Fluchtroman. Darin wirft der italienische Kolonialismus in Äthiopien lange Schatten.

Eine Wasseroberfläche in Bewegung

Francesca Melandris großer Fluchtroman erzählt von Bewegungen übers Mittelmeer Foto: imago/Westend61

Auf dem Esquilin, dem höchsten der sieben Hügel Roms, bekommt die Welt ihren besonderen Duft. Die Gerüche aus den Küchen der Migranten vermischen sich mit der Meeresbrise aus Ostia. Durch das Viertel wehen Offenheit und Weite. Die Lehrerin Ilaria Profeti weiß dies zu genießen: „Da, ein Hauch von Eau de Maghreb, oh, riech mal, eine kleine Wolke Obsession d’Inde, ah, welch ein Bouquet – gekochter Kohl und roher Knoblauch –, das muss das seltene Korea Extrême sein.“

Es gibt aber auch Tage, an denen die Mittvierzigerin weniger Nerven aufbringt, etwa wenn ihr Auto abgeschleppt wurde, weil Libyens Oberst Muammar al-Gaddafi zum Staatsbesuch angekündigt und die Stadt lahmgelegt ist. Italien will ein neues Flüchtlingsabkommen, der Cavaliere bemüht sich. An einem solchen Tag des Jahres 2010 steht vor Ilarias Tür ein junger Äthiopier und behauptet, ihr Neffe zu sein. Ihr Vater Attilio Profeti sei sein Großvater. In seinem Ausweis steht tatsächlich der Name Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti.

Was tun? Der Vater könnte die Sache aufklären, doch er lebt alt und dement in seiner eigenen Welt. Und obwohl ihr Bruder sie drängt, die Polizei zu rufen, entscheidet sich Ilaria für das einzig Richtige: Sie nimmt den jungen Mann auf und damit auch die Suche nach Antworten: Wann war ihr Vater in Äthiopien? Im Krieg? Ihr Onkel hat in El Alamein gekämpft. Aber Papa war doch bei den Partisanen!

Aus der unwahrscheinlichen Begegnung zweier Fremder entwickelt Francesca Melandri in ihrem Roman „Alle, außer mir“ eine italienische Familiengeschichte, die am Ende der 600 Seiten nicht einmal mehr ungewöhnlich erscheint. Geschickt die Perspektiven wechselnd, führt die Autorin zurück in die Vergangenheit der italienischen Kolonialgeschichte. Unerschrocken zerrt sie verdrängtes Unrecht ans Licht, zertrümmert Lügen und Halbwahrheiten und lässt marmorne Patriarchenbilder zu Staub zerbröseln. Wie sie jedoch den Bogen von der faschistischen Besetzung Abessiniens zu den heutigen Fluchtbewegungen aus Äthiopien schlägt, raubt einem den Atem.

Bewegungen in umgekehrter Richtung

Die 1964 geborene Melandri ist eine genaue Beobachterin und souveräne Erzählerin. Ihre Brisanz ziehen ihre gründlich recherchierten Romane aus der Intellektualität, mit der sie Fragen an das Gestern und das Heute stellt. In „Alle, außer mir“ führt die Reise durch die Zeit über das Mittelmeer. Dezent, aber schockierend skizziert Melandri die Flucht des jungen Äthiopiers mit dem sprechenden Name Ietmgeta: „Ich bin edel überall“. Er schlägt sich durch den Sudan und die libysche Wüste bis nach Tripolis, erst der Habgier der Schlepper mit ihrem GPS ausgesetzt, dann der Grausamkeit der libyschen Militärs in ihren Folterkellern. Wenn Staatsbesuch aus Europa kommt, werden die Gefängnisse geleert. Ietmgeta ergattert eine Fahrt übers Meer und gelangt nach eineinhalbjähriger Odyssee über Lampedusa, Trapani und Sizilien endlich nach Rom.

Mit voller, kaum je versiegender Kraft erzählt Melandri dann von den Bewegungen in umgekehrter Richtung, als die Italiener in den dreißiger Jahren den Weg übers Mittelmeer nahmen. Sie kamen nicht als friedliche, verarmte Bauern nach Äthiopien, sondern als Eroberer in Schwarzhemden. In ihren Tornistern hatten sie Giftgas und die Schriften zum faschistischen Rassismus. Die Amharen waren einverstanden mit den Theorien überlegener Rassen, sie sehen das genauso, vor allem gegenüber den dunkleren Völkern Afrikas. Doch darum wollten sie sich den Armeen des Duce auch nicht geschlagen geben. Es sind aufwühlenden Passagen, in denen Melandri die Kriegsverbrechen der italienischen Armee schildert.

Francesca Melandri: „Alle, außer mir“. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach, Berlin 2018, 608 Seiten, 26 Euro.

Aber noch schmerzhafter sind die Kapitel aus der Nachkriegsgeschichte, in der die Untaten so umstandslos vergessen wurden und die italienischen Unternehmen prompt wieder nach Äthiopien drängten, unbeschadet aller Unterdrückung, trotz und während aller Hungersnöte. Was durch die Jahrzehnte hindurch gleich blieb, war die Bewunderung für schöne, skrupellose Menschen. Für Menschen mit dem richtigen Blut.

Im italienischen ­Original heißt der Roman „Sangue giusto“. Der deutsche Titel „Alle, außer mir“ verweist auf den Hochmut, mit dem man sich über das Leben der anderen stellt. Melandri führt in der Familie Profeti unzählige Abstufungen von Arroganz, Opportunismus und Ignoranz zusammen, aber auch Abenteuerlust, Freigeistigkeit und unvernünftige Liebe. Ilaria ist die große Moralistin, die den Roman trägt. Sie erreicht jedoch erst ihre ganze Größe, als sie von ihren Prinzipien abrückt, um einem anderen Menschen zu helfen. Der Fremde, lehrt dieser Roman, ist jener Teil unserer Familie, den wir noch nicht kennen.

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