Roman über männliche Macht: Eine Schule der Skepsis

Norbert Gstreins neuer Roman „Als ich jung war“ erzählt von Machtmissbrauch, Selbsmitleid, Lebenslügen und scheibchenweise eingestandener Schuld.

Eine Kirche vor düsteren Tiroler Bergen

Die Enge Tirols hat auch immer mit dem Einfluss der Kirche zu tun Foto: Unsplash/ Marc Steenbeke

Wenn Norbert Gstreins Sätze lang und länger werden, geht es um alles. Um die Liebe, um das Alter und den Tod, um Schuld und Sühne. Doch so kompliziert die Satzkaskaden, so verwickelt die Gedanken.

Der 1961 in einer kleinen Tiroler Ortschaft geborene und heute in Hamburg lebende Schriftsteller ist nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein sehr sinnlicher Autor, der zwischenmenschliche Untiefen mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu verbinden weiß, wie er das zuletzt in seinem Roman „Die kommenden Jahre“ getan hat. Darin geht es um Identitätskrisen und Ehekrisen, aber auch um die Migrations- und Klimamisere. Das alles wird mit Fingerspitzengefühl erzählt, ohne die Widersprüche und Verlogenheiten in diesen Themenfeldern auszusparen.

Am Anfang des neuen Romans „Als ich jung war“ schaut der Ich-Erzähler Franz auf seine in vielerlei Hinsicht trostlose Jugend zurück: „Als ich jung war, glaubte ich an fast alles, und später an fast gar nichts mehr, und irgendwann in dieser Zeit dürfte mir der Glaube, dürfte mir das Glauben abhandengekommen sein.“ Dass dem jugendlichen Franz nicht nur der katholische Glauben, sondern das Glauben an jedwede Institution fremd wurde, hat maßgeblich mit den familiären Verhältnissen zu tun, in denen der Sohn eines Hotelbesitzers aufwächst.

Franz, der Hochzeitsfotograf

Der Vater führt zwei Betriebe in den Tiroler Alpen, im Winter ein Skihotel, im Sommer ein Restaurant, das zunächst ironisch, dann aber „von allen ernsthaft“ die „Hochzeitsfabrik“ genannt wird, „ohne dass dadurch die Anziehungskraft litt“. Woche für Woche kommen also die Paare aus den umliegenden Dörfern, bald auch aus fernen Städten, um dort ihre sich ähnelnden Hochzeiten zu feiern, zu denen es bald gehört, dass der fünfzehnjährige Franz im Auftrag des Vaters Fotos von den Feiernden zu machen hat.

Tatsächlich entwickelt der emsige Internatsschüler schon bald eine gewisse Professionalität in der Inszenierung jener Bilder, die den angeblich schönsten Tag im Leben der Brautleute festhalten sollen. Wie wenig die Ehe aber mit echtem Lebensglück zu tun hat, weiß Franz nur zu gut, denn das einzige Paar, das er wirklich kennt und das ihn verstört, sind Mutter und Vater.

Denn die streiten nach getaner Arbeit immer wieder, man könnte auch sagen, der Vater beschimpft auf üble Weise seine Frau, während die Söhne im Nebenzimmer liegen und sich die Selbstmorddrohungen der Mutter anhören. Die weiß sich gegen den rücksichtslosen Familienpatriarchen nur zu wehren, indem sie unter Tränen ankündigt, wenn der Gatte sie weiterhin so schlecht behandeln würde, gehe sie „ins Wasser“.

Der Suizid ist ein zentrales Motiv in dem düsteren Roman. Franz ist längst zu Hause ausgezogen, studiert mal Medizin, mal etwas lustlos Anglistik und Germanistik, übernimmt dann doch mal wieder den Job des Hochzeitsfotografen, als sich eine Braut das Leben nimmt. Der Erzähler hält das Unglück für eine Stellvertretertat für das, was die Mutter zum Glück nie tat. Er hat die Braut, die mit gebrochenem Genick unterhalb eines Felsvorsprungs liegt, noch kurz vor ihrem Tod fotografiert. Die Polizei sucht auf den Bildern nach Hinweisen auf den Tathergang. Zwar deutet viel auf einen Selbstmord hin, aber auch weil die Frau so gar nicht lebensmüde wirkt, als sie in die Kamera schaut, wird Franz verdächtigt, mit ihrem Tod etwas zu tun zu haben. Außerdem kommt heraus, dass der gar nicht mehr so junge Hochzeitsfotograf wenige Tage zuvor ein junges, ein viel zu junges Mädchen gegen seinen Willen geküsst hat, und zwar die virtuos Violine spielende Cousine einer anderen Braut.

Männer neigen zum Schubsen

Norbert Gstrein, so lautet eine der Botschaften des Romans, rät zum genauen Hinsehen, entwickelt im Text und gegen den Text eine Schule der Skepsis. Vor allem wenn Kausalketten als Naturgesetz verkauft werden. So entwirft ausgerechnet eine Nonne eine Art Theorie des permanenten sexuellen Übergriffs, der die Frauen zwangsläufig in den Abgrund führe. Viele Männer, wenn nicht alle, sagt sie, würden dazu neigen, Frauen zu „schubsen“. Weil Frauen ständig mit diesem Missbrauch der männlichen Macht zu leiden hätten, brauche es oft nur einen letzten „Schubser“ und manchmal nicht mal den, um dem Leben ein Ende setzen zu wollen.

Auf welche Weise Franz nicht nur das Mädchen, sondern auch die möglicherweise depressive Braut „geschubst“ hat oder eben nicht, wird zunächst offengehalten, denn der junge Mann sucht das Weite, haut nach Wyo­ming ab, in einen luxuriösen Ferienort namens Jackson. Die Missbrauchsgeschichte und die Schuld, die Franz sich beziehungsweise dem lesenden Publikum nur scheibchenweise eingesteht, indem nämlich das Mädchen von Kapitel zu Kapitel jünger wird, muss ihn zwangsläufig auch in den Vereinigten Staaten verfolgen.

Dort schlägt er sich als Skilehrer durch und lernt einen tschechischen Raketenphysiker kennen. Zwischen beiden entwickelt sich eine seltsame und etwas einseitige Freundschaft, die zentral ist für den Verlauf des Romans. Norbert Gstrein spiegelt sehr geschickt die Episoden in den USA an den Figuren und Ereignissen in der österreichischen Heimat des Ich-Erzählers. So erscheinen die Vorgänge in Tirol zwar nicht unbedingt in einem anderen Licht, doch das Geschehen in der Ferne wirft erneut die Frage nach den vermeintlich eindeutigen Kausalitäten auf.

Denn wieder wird Franz mit einem Selbstmord konfrontiert: Der befreundete Physiker bringt sich um, und auf der Suche nach den Gründen steht der Vorwurf im Raum, der Mann sei pädophil gewesen. War er aber nicht. Seine verdrehten Ansichten und seine Verschwörungstheorien sind vielmehr einem traumatisierenden Autounfall geschuldet, bei dem in jungen Jahren die Eltern und die Schwester getötet wurden.

Der feine Unterschied zwischen Lebenslüge und Gerücht

Norbert Gstreins schriftstellerische Könnerschaft zeigt sich nun darin, die feinen Unterschiede von Lebenslüge, Gerücht und Schuld klar zu benennen und gleichzeitig vor einfachen Zuschreibungen zu warnen. Der literarische Clou dabei ist, dass ausgerechnet ein unzuverlässiger Erzähler ihm hilft, auf diesem schmalen Erzählgrat zu wandeln.

Gstrein kennt die Untiefen, weiß um die Fallhöhe, und als gewiefter Erzähler schickt er seine Figuren nicht selten in die Hölle des Halbwissens. Erst zum Romanende wird klar, dass die moralische und – nebenbei bemerkt – über jeden Zweifel erhabene Position des Schriftstellers sich in der literarischen Konstruktion verbirgt. „Als ich jung war“ ist eine Art Rechenschaftsbericht, vielleicht sogar ein Bußgang des Ich-Erzählers, der seine Schuld offenlegen, der aber auch Schluss machen will mit dem quälenden Selbstmitleid und der sich letzten Endes nach Vergebung für ein vergleichsweise harmloses Vergehen sehnt. Insofern ist Franz vielleicht der kindliche Glaube an den lieben Gott abhandengekommen, die Lehren des Katholizismus aber prägen ihn weiterhin.

Es liegt durchaus nahe, den Roman vor allem als literarischen Kommentar zur „MeToo“-Debatte zu lesen. Tatsächlich geht der Text viel weiter, versucht er doch die Möglichkeiten und Grenzen des literarischen Schreibens über ein solches „Thema“ auszuloten. Wie auch in den vergangenen Arbeiten formt Gstrein schönste und grausamste Satzschlangen, in denen Doppelbödigkeiten und Widersprüche gekonnt eingebaut werden. Gerade weil die mediale Welt von Freund-Feind-Mustern geprägt ist, beschwört Gstrein die Kraft jener Literatur, die sich gegen allzu eilige Schlüsse wehrt.

Aus der Enge Tirols in die Weite amerikanischer Landschaft

Der Autor sieht sich dabei einer langen Erzähltradition verpflichtet, und so durchzieht er seinen Roman mit zahlreichen Verweisen auf bekannte und weniger geläufige Werke der Weltliteratur, die von rauschhafter Liebe, von verbotenen Begierden und den Aporien von Jugend und Alter handeln. Da gibt es Seitenhiebe auf Jane Austens Klassiker oder subtile Bezüge zur erotisch-fantastischen Novelle „Aura“ von Carlos Fuentes.

Norbert Gstrein: „Als ich jung war“. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2019, 350 Seiten, 22 Euro

Norbert Gstrein, so erfährt man auf einer weiteren Erzähl­ebene dieses beeindruckenden Prosawerks, hat sich zudem auf eine Reise in die Bilderwelt der amerikanischen Literaturlandschaften begeben, die er wohl auch in seinen nächsten Büchern fortsetzen wird. Statt in der Enge der Tiroler Berg- und Talwelt, die sein Frühwerk prägte, findet Gstrein sein literarisches Glück nun in grotesken Szenen, die eben nur in den Weiten der USA zu erzählen sind. Auf einem Pick-up fährt Franz die Leiche des Professors zu seiner letzten Ruhestätte durch ein Land, in dem Einsamkeit auch für die Freiheit steht, wenn da nicht immer wieder grimmige Highway-Polizisten aufträten. Nicht zuletzt in diesen so ruhigen wie beängstigenden Roadmovie-Passagen zeigt Norbert Gstrein, dass er derzeit zu den raffiniertesten Schriftstellern deutscher Sprache zählt.

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