Roman über postsowjetisches Leben: Der Schmerz und der Hunger

Ein Gefühl der Rastlosigkeit: Olga Grjasnowa jongliert in „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ Lebensentwürfe zwischen Berlin und Baku.

Qual auf der Bühne im Bolschoi-Theater. Bild: imago/itar-tass

Formal gleicht dieses Buch einem gleichschenkligen Dreieck: Der erste Teil, der Mitte der neunziger Jahre in Berlin spielt, zählt seine Kapitel rückwärts von 29 bis 1. Der zweite, in dem die Protagonisten nach Baku, Aserbaidschan und von dort in verschiedene Regionen des Kaukasus reisen („die vergessene Mitte der Welt“, wie der Essayist Stephan Wackwitz diese Gegenden nennt), zählt wieder hinauf von 1 bis 29.

Was die beiden Winkel in Olga Grjasnowas zweitem Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ verbindet, ist die Geschichte einer Dreiecksbeziehung, die sich gar nicht so abgezirkelt und konzeptionell anlässt, wie die Kapitelstruktur suggeriert.

Im Gegenteil. Die 1984 in Baku geborene Absolventin des Leipziger Literaturinstituts startet hochdramatisch und geradezu räuberpistolenhaft mit einem „Kapitel 0“, das der Chronologie halber eigentlich auf dem Scheitelpunkt zwischen Teil eins und zwei stehen müsste. Die ehemalige Balletttänzerin Leyla wird darin wegen der Teilnahme an illegalen Autorennen durch Baku in einem aserbaidschanischen Gefängnis brutal verhört, missbraucht und gefoltert – eine Erfahrung, die Grjasnowa mit einem Rückblick auf Leylas Ausbildung zur klassischen Balletttänzerin verschneidet („Schmerz und Hunger war sie gewöhnt“).

Sie ist überhaupt nur deshalb aus Berlin nach Baku zurückgekehrt, weil sie nie wieder würde „werden können, was sie einst gewesen war. Eine Ballerina.“ Autorennen, Koks, das MDMA – alles Versuche, dem Körper auf Trainingsentzug wenigstens ein paar Endorphine abzupressen.

Olga Grjasnowa: „Die juristische Unschärfe einer Ehe". Hanser, München 2014, 366 Seiten, 19,90 Euro

Radikal selbstdiszipliniert

Im weiteren Verlauf jongliert Olga Grjasnowa mit gleich drei Hauptfiguren – und so mancher kolportagehaften Wendung. Zur noch in Berlin weilenden Leyla gesellt sich die Jüdin Jonoun, die in einem israelischen Kibbuz aufwuchs, in New York drei Jahre mit ihrem Kunstprofessor verheiratet und danach mit dem Enkel eines Nazi-Schlächters liiert war. Leicht bis mittelschwer verpeilt, ehrgeizlos und eher rundlich ist sie das exakte Gegenteil der radikal selbstdisziplinierten Leyla, in die sie sich verliebt.

Die Tochter einer ehrgeizigen Sowjet-Großbürgerin hat im für Ballerinen reifen Alter von Mitte zwanzig gerade noch ein Engagement im Ensemble der Deutschen Oper ergattert. Seit ihrer Ausbildung am Moskauer Bolschoiballett weiß Leyla, dass sie Frauen begehrt – weshalb sie den homosexuellen Psychiater Altay geheiratet hat, als beider Verwandtschaft diese Ehe einfädelte. Das Paar verbindet auch, aber nicht nur eine Zweck- und Schutzgemeinschaft in der postsowjetischen Ölrepublik: Sie lieben sich, schlafen sogar miteinander und gewähren sich (fast) jede sexuelle Freiheit.

Traumverloren in Tiflis

Schon in ihrem Debüt „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ porträtierte Olga Grjasnowa in Gestalt der bürgerkriegstraumatisierten, bisexuellen Dolmetscherin Mascha eine junge globale, fast schon musterbeispielhaft postmainstreamige Elite: gerade noch sowjetisch sozialisiert, häufig jüdisch, ideologisch und kulturell entwurzelt, vielsprachig und lernbegierig, dabei gleichermaßen von Ehrgeiz und Unangepasstheit getrieben. Auch das Trio Leyla, Altay und Jonoun setzt diese Linie fort, und wenn Grjasnowa die drei im zweiten Teil nach Aserbaidschan und Georgien schickt, wenn Altay sich in den steinreichen Politikersohn Farid verliebt und Leyla und Jonoun traumverloren durch Tiflis spazieren, spitzen sich Glamour und Bedrohung sogar noch zu: So grau und inspirationsarm das liberale Berlin im Vergleich auch erscheint, der farbig lockende Kaukasus bleibt für die unkonventionell Liebenden tragischerweise ein lebensfeindlicher Ort. Olga Grjasnowa erzählt mitreißend, in hohem Tempo und aus kühler Distanz; biografische Hintergründe oder Ortsbeschreibungen umreißt sie geschickt und doch meist nur skizzenhaft, als läge ein Risiko darin, zu genau hinzuschauen.

Vor allem in Hinblick auf ihre Figuren hat das seinen Preis. So stark sich durch sie ein Lebensgefühl der Rastlosigkeit bis hin zur Selbstzerstörung vermittelt – die geschilderten Beziehungen bleiben merkwürdig flach, das Begehren wirkt manchmal aufgesetzt („Der Mund war sinnlich, die Lippen voll“), und auch in den Sexszenen dominieren eher kunsthistorische Verweise („Leyla dachte, dass Jonoun es verdient hätte, von Manet gemalt zu werden“, „Leyla stöhnte synkopisch“) als eine Sprache der Hingabe oder Leidenschaft. Vor allem Jonoun, die Leyla und ihre kaukasische Familie weniger sexuell als identifikatorisch begehrt, fällt im Laufe des zweiten Teils regelrecht unter den (Orient-)Teppich.

Doch das könnte auch der bizarren Ironie der Geschichte dienen, auf die „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ zusteuert. Am Ende reist das schwul-lesbische Pärchen mit den heteronormativsten Absichten zurück nach Berlin. Auch so kann sich ein Dreieck schließen – wenn nicht die letzte Pointe alles noch mal infrage stellen würde.

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